29 August 2006

 

Ein Wunder im Ötztal

Nach meinen letztjährigen Erlebnissen beim Ötztaler Radmarathon war schnell klar: hier muß ich wieder dabei sein. Matthias brauchte nicht lange zu einer Teilnahme überredet zu werden, auch Ingo war für die Idee den "Ötzi" zu fahren schnell zu begeistern, allein bei Sebastian war etwas mehr Überzeugungsarbeit notwendig. Die erste Hürde, die es beim ÖRM zu bewältigen gilt, ist die Anmeldung: 4000 Startplätze werden vergeben, wann die Online-Anmeldung freigeschaltet wird, weiß man jedoch im voraus nicht; im Februar 2006, so der lapidare Hinweis auf der offiziellen Webseite. Um uns alle vier anzumelden, tauschten wir alle relevanten Daten aus, so daß jeder von uns vier die Anmeldung für sich und die anderen übernehmen konnte. Das Ganze funktionierte so gut, daß Ingo und ich uns nahezu gleichzeitig anmeldeten, so daß wir vier Startplätze gleich wieder zurückgeben konnten. Während einer Trainingsfahrt gelang es uns gemeinschaftlich auch noch Jan zu überzeugen, sich doch bei der Verlosung zurückgegebener Startplätze zu bewerben. Und siehe da: er erhielt über die Verlosung noch einen Startplatz. Mit fünf Fahrern bestand dann auch die Möglichkeit als Mannschaft in der Teamwertung gewertet zu werden.
Nun nahm das Projekt "Ötzi" konkretere Züge an: zu den unzähligen Winterkilometern, kamen nun noch mehr Kilometer, viele viele Höhenmeter und einige "Vorbereitungs"marathons, denen sich allerdings Sebastian und Jan aus diversen Gründen konsequent verweigerten ;-)
Ich selbst hatte zu Saisonbeginn mal den Traum von 8:30h geäußert; nach meinen Leistungen des Jahres (insbesondere meiner Leistung bei La Marmotte) traute ich mir sogar eine Zeit im Bereich von 8:00h bis 8:15h zu. Aber La Marmotte war Anfang Juli und meine Form insbesondere in den letzten Wochen (zumindest subjektiv) nicht besser geworden; halbwegs realistisch erschienen mir 8:15h plus-minus 5min. "Offiziell" gab ich allerdings wieder 8:30h als Ziel aus.

Das Team: Jan, Sebastian, der Autor, Matthias und Ingo (v.l.n.r.)


Die selbstgemachten Teamtrikots

Die Anreise erfolgte in einem über den Verein bezogenen VW-Bus. Guter Dinge und bei halbwegs gutem Wetter machten wir fünf uns am Samstag morgen auf den Weg Richtung Sölden im Ötztal. Am Bahnhof Ötztal stieg dann auch noch Matthias' Freundin Andrea zu, die freundlicherweise die Verpflegung für uns am Brenner übernehmen wollte. In Sölden angekommen holten wir zunächst mal den Schlüssel für unser Appartement in einem richtigen Luxushotel ab und erfuhren bei dieser Gelegenheit, daß wir als Teilnehmer des Radmarathons eingeladen waren unser sonntägliches Frühstück in diesem Hotel zu uns zu nehmen, außerdem stand uns die Sauna zur Benutzung offen. DAS ist mal ein Service. Und, nein, ich verrate jetzt nicht, welches Appartement wir hatten, sonst bucht jeder nächstes Jahr dort ;-) Der restliche Tag verging schnell: noch eine kurze Trainingsrunde, um die Beine ein bißchen zu lockern und unsere selbstgemachten Trikots ein bißchen spazieren zu fahren (richtige Vereinstrikots gibt es trotz einer Vorlaufzeit von bald einem Jahr für uns leider immer noch nicht), danach das übliche Pastaessen und dann ging es auch schon bald ins Bett.

Ingo, Matthias und Jan (v.l.n.r.)

Einrollen und Trikots spazierenfahren im Ötztal

Am Abend vorher beginnt es dann doch zu regnen. Meine übelsten Vorahnungen scheinen wahr zu werden: würde es wieder so sein wie im Vorjahr? Samstag trocken und schön bis abends und dann Dauerregen bis einschließlich Sonntagmittag? So gilt der erste Blick, nach dem der Wecker um 4Uhr geklingelt hatte, dem Wetter: tief hängende Wolken, aber trockene Straßen. Hoffentlich hält das bis zum Start. Danach darf es ruhig regnen, nur bei Siffwetter schon loszufahren macht keinen Spaß. Nachdem einem luxuriösen Frühstück (s. oben) machen sich die anderen vier so um zwanzig vor sechs schon auf den Weg in die Startaufstellung; ich selbst darf dieses Jahr dank meiner Vorjahreszeit aus dem ersten Startblock starten. Da Andrea auch schon unterwegs Richtung Brenner ist, bin ich ganz allein im Appartment und aus unerfindlichen Gründen schlagartig hypernervös.

Der Autor am Morgen vor dem Start

Ich tigere in der Wohnung auf und ab wie ein nervöses Rennpferd, muß mich zwingen nicht auch gleich in die Startaufstellung zu fahren. Gegen kurz nach sechs Uhr halte ich es vollends nicht mehr aus und verlasse ebenfalls die Wohnung um Richtung Start zu rollen. Als ich mich so gegen zehn nach sechs an den Start stelle, ist der erste Startblock doch schon ganz gut gefüllt. Ich unterhalte mich noch kurz mit zwei Fahrern vom Team Strassacker, die neben mir stehen, dann geht es um Punkt 6.30Uhr auch schon los. Von der erste Startgruppe hatte ich einiges an Gutem gehört, vor allem die erste Abfahrt nach Ötz sei mit dieser Gruppe unstressiger als hinten im Hauptfeld. Aber Pustekuchen: ein blödes Rumgestecke, Abbremsen bis zum Faststillstand, wieder Antreten, der Puls ist jetzt schon jenseits dessen, was ich mir eigentlich als Limit für den Kühtaianstieg gesetzt hatte. Ich beschließe, den Puls heute einfach Puls sein zu lassen und einfach zu fahren. Was bleibt mir auch anderes übrig?! Also weiterhin versuchen ein paar Positionen im großen Feld gutzumachen, weiter vorne ist es normalerweise ruhiger. Und wer hat da neben mir das gleiche Ansinnen? Die blau-orangenen Klamotten und das blaue Storck mit den Lightweights kenn ich doch: mein Herpersdorfer Freund vom Arber. Schnell ein paar Worte gewechselt, dann zieht es ihn auch schon weiter. Vor mir taucht ein Fahrer in Australia-Trikot auf: das kann doch nur der K.Roo aus dem Tour-Forum sein, und Tatsache, er ist es. Auch mit ihm wechsle ich ein paar Worte. Mittlerweile bin ich etwas weiter vorne, und es wird tatsächlich etwas ruhiger gefahren.

Insgesamt ist das Tempo allerdings eher mäßig, nach 42min biegen wir in den Kühtaianstieg ein; viel langsamer war ich letztes Jahr, als ich hinten starten mußte, auch nicht. Also, Regenjacke im Trikot verstauen, Weste aufmachen, Handschuhe ausziehen und los ging der Tanz. Ein schneller Blick auf die Pulsuhr: jetzt schon 175-180. Das kann ja heiter werden. Aber egal, das hier ist Radrennen und so fahr ich auch. Ein neues Gefühl stellt sich bei mir ein: das Gefühl des Überholtwerdens am Berg. Bisher war ich bei all meinen Alpenmarathons eher hinten gestartet, so daß ich deutlich mehr Leute überholen konnte als Leute mich überholt haben. Jetzt war das auf einmal anders: jede Menge Fahrer muß ich ziehen lassen, während ich selbst kaum Fahrer überhole. Kein gutes Gefühl. Trotzdem überhole ich eine links neben mir fahrende Frau mit charakteristischem Schaukeltritt: das kann doch nur Anna Corona sein, die Vorjahressiegerin. Sie ist es tatsächlich, so schlecht kann ich also nicht unterwegs sein, immerhin ist sie letztes Jahr 8:12h gefahren. Nach ein paar Kilometern hat sich das Feld allerdings halbwegs sortiert, ich habe meinen (zu schnellen?) Rhythmus gefunden, betreibe so ein bißchen Gruppenhopping, trotzdem habe ich das Gefühl nur unwesentlich schneller als letztes Jahr zu sein, bei allerdings deutlich höherem Puls. Ich fahre zu einer kleinen Gruppe mit ca. fünf Fahrern auf, darunter drei Österreicher in gleichem Trikot; ganz offentsichtlich gehören sie zur selben Mannschaft. Hier hänge ich mich erst mal eine Weile an. Es geht durch die ersten Serpentinen. Die Straße ist naß, immer wieder tröpfelt es auch ein wenig. Im folgende Flachstück lösen wir uns zu viert ab; vor uns liegt eine größere Gruppe, die wir einholen wollen. Am steilsten Stück fahre ich das Loch zu dieser Gruppe vollends zu: Puls 195, die Säure in den Beinen. Ok, jetzt ist erst mal Erholen angesagt. Ich versuche den Puls wenigstens wieder ein bißchen zu drücken, aber irgendwie ist mein Rhythmus so, daß der Puls gar nicht mehr richtig runter geht. Egal, nächstes Jahr fahr ich ohne das blöde Ding von Pulsmesser. Das macht ja nur verrückt. In der Gruppe ist auch Monica Bandini mit ihren Gregari, auch eine Kandidatin für die Damenwertung. Außerdem noch in dieser Gruppe: der Herpersdorfer mit den Lightweights. Auf einem etwas zu schräg angefahrenen Weiderost komme ich ins Schlingern und lege mich fast auf die Schnauze. Nach dieser Schrecksekunde kommt von vorne ein blonder Fahrer mit blauem Helm und weiß-blauem Trikot zurück: Christian Ceralli, der Vorjahresieger. Nun hatte ich also schon beide Vorjahressieger überholt. Irgendwie kein ganz schlechtes Gefühl. Zirka anderthalb Kilometer vor der Paßhöhe löse ich mich aus dieser Gruppe, eigentlich eher unabsichtlich, ich fahre einfach meinen Tritt weiter. Über eine geschotterte Behelfsstraße geht es die letzten Meter hinauf zum ersten Paß des Tages, dem Kühtaisattel.

Nach 1h 46min Fahrzeit bis dato bin ich auf der Paßhöhe; war also doch nicht so langsam, wie es sich teilweise angefühlt hatte. Ich greife mir im Vorbeifahren einen Becher mit warmem Tee, mache meine Windweste zu und beschließe für Abfahrt auf Handschuhe und Windjacke zu verzichten. Die Straße ist weiterhin naß, aber das ist in dieser Abfahrt eher unproblematisch, da es eh fast nur geradeaus geht. Oben in der Galerie steht zum ersten Mal die neun vorne bei der Geschwindigkeitsanzeige. Hoffentlich macht keiner der (langsameren) Fahrer vor mir jetzt einen blöden Schlenker. Im Steilstück erreiche ich "leider nur" 98km/h, ich hätte so gern die 100km/h geknackt! Weiter unten, wo es langsam etwas flacher wird, formiert sich eine Gruppe von zunächst etwa zehn Fahrern, darunter auch toboxx aus dem Tour-Forum. Schnell wächst die Gruppe auf dem Weg nach Innsbruck auf sicherlich rund 100 oder mehr Fahrer an.

Ich suche mir einen Platz in der Mitte der Gruppe; einfach mitrollen und dabei soviel wie möglich essen lautet der Plan für den nun folgenden Anstieg zum Brenner. Das mit dem "Mitrollen" erweist sich sehr bald Wunschtraum: es wird ein Höllentempo angeschlagen, an "Ausruhen" oder gar "Erholen" ist nicht zu denken. Die wenigen Momente, in denen das Tempo halbwegs erträglich ist, nutze ich, um mir peu à peu zwei Powerbarriegel reinzuwürgen. Irgendwann ist ein fast ebenes Stück erreicht, aber statt gemäßigten Tempos wird es noch schneller: 45-50km/h zeigt der Tacho, fast die ganze Gruppe fährt Einerreihe, ich bin selbst im Windschatten teilweise schwer am klemmen. In Steinach ist es schließlich soweit: wir haben dank unseres Höllenritts die Spitzengruppe mit allen Favoriten (darunter auch Profi Gerrit Glomser) erreicht. Ich hoffe nun auf ruhigeres Tempo, das mir das Feld auch kurzzeitig gönnt, aber schon nach wenigen Kilometern geht die Hatz auf's Neue los. Von Erholen kann keine Rede sein, der Puls ist in den gleichen Regionen wie am Kühtai. Ok, denk ich mir, du wolltest Radrennen, hier hast du Radrennen. Was soll man auch machen? Abreißen lassen und auf die nächste Gruppe warten? Nein, erstens weiß man nicht, wann die kommt, zweitens ist solch eine Gruppe wie diese eine Riesenchance wahnsinnig viel Zeit gutzumachen, auch wenn die Gefahr besteht, daß man dabei total übereißt. Und so ist dann auch der Tenor um mich herum: "Sind die da vorne wahnsinnig? Dafür bekommen wir später die Quittung! Das rächt sich!" Ich selbst bekomme die Quittung bereits auf den letzten 3km zum Brennerpaß: Wadenkrämpfe! Als ich aus dem Sattel gehe um die etwas steileren letzten Kilometer anzugehen, gehen mir nahezu zeitgleich die linke und die rechte Wade zu. Ich könnte schreien vor Schmerzen. Schnell verliere ich ein paar Positionen, aber irgendwie geht es trotzdem noch halbwegs flott weiter. Nach rund 3h 35min ist der Brenner erreicht. 10min vor meiner Kalkulation.

Am Brenner oben wartet Andrea mit neuen Trinkflaschen, schnell die leeren Flaschen weg, Windjacke und Handschuhe ebenfalls ins Auto gepfeffert, noch kurz mein Leid geklagt, so von wegen Wadenkrämpfe und daß sie den anderen ausrichten solle, daß bei mir Ende sei, dann geht's auch schon weiter. Die erste Dreiergruppe, die mich zum Mitfahren auffordert, lasse ich fahren. Meine Beine gehorchen mir noch nicht wieder so richtig. An die nächste Vierergruppe hänge ich mich allerdings dran, fahre auch mit durch den Wind. Vor uns taucht die große Spitzengruppe mit sicherlich rund 200 Fahrern auf, dahinter schlängeln wir uns durch die (eigentlich verbotenen) Begleitfahrzeuge. Da kommt schon so etwas wie Tour de France-Feeling auf: abgehängte Fahrer kämpfen sich in der Abfahrt im Windschatten der Autos zurück ins Feld ;-) In der Ebene angekommen, werden meine Krämpfe wieder schlimmer. Meine Beine führen ein sehr schmerzhaftes Eigenleben. Ok, versuch mal die Krämpfe rauszudehnen. Aufstehen, Bein strecken, Ferse absenken, aua, mir schießt ein Riesenkrampf in den vorderen Oberschenkel. Das gleiche Spiel auf der anderen Seite. Schmerz pur. Ich könnte schreien. Ich hab noch rund 100km mit zwei Pässen, darunter mit dem Timmelsjoch einen superschweren Anstieg, der alleine schon reicht einem den Saft aus den Beinen zu ziehen. Wie soll das bitte gehen?! Unten rein in den Jaufen reißt das Feld auseinander. Ich versuche meinen Tritt zu finden. Vor allem, wie soll ich fahren: im Sitzen krampfen die Waden, im Stehen gehen die Oberschenkel zu. Komischerweise werden die Schmerzen unter Belastung erträglicher, auch wenn die Beine sich immer wieder wie blockiert anfühlen. Noch hänge ich in einer Gruppe, darin auch Monia Gallucci (die spätere Siegerin) mit ihren Helfern, aber es ist ein Spiel mit dem Feuer. Jederzeit könnten die Beine komplett zu gehen, und ich würde stehen. Nach fünf oder sechs Kilometern wird mir das Tempo der Gruppe doch etwas zu hoch, Meter für Meter verliere ich. Von hinten kommen nun auch wieder Fahrer zu mir zurück. Ich fühle mich beschissen. Hatte ich zu wenig getrunken? War es ein Fehler die Kühtailabe auszulassen? Oder war schlicht und einfach das Tempo zu hoch? Immerhin lag der Schnitt bis zum Brenner bei rund 34km/h! Der Jaufen, den ich letztes Jahr sowohl für Anstieg als auch für Abfahrt ins Herz geschlossen hatte, droht zum Fiasko zu werden. Zu allem Überfluß fängt es auch noch an zu regnen. Normalerweise stört mich das nicht, aber jetzt und hier gab es mir den Rest. Aber ich kann doch nicht absteigen und schieben, oder gar aufgeben! Also irgendwie weiter, die um mich herum sind zwar einen Tick schneller, aber richtig gut sehen die auch nicht mehr aus. Endlich komme ich aus dem Waldstück heraus, kann die Paßhöhe sehen. Nicht hochschauen, das deprimiert nur. Vereinzelt stehen Zuschauer, die die Fahrer anfeuern. Irgendwie kann ich das gerade gar nicht brauchen, daß mir jemand auch noch "Bravo!" zuruft. Nix bravo, beschissen isses, und zwar so richtig. Endlich ist die Paßhöhe erreicht, die Labe ist dieses Jahr zum Glück ganz oben auf dem Paß. Ich fülle meine Flasche mit Eistee, ein Fehler. Es ist eine Frechheit ein solch klebrig-süßes Zeug bei einem Radmarathon anzubieten. Schnell noch die Windweste angezogen, auf die Uhr geschaut, ich wollte schließlich meine genaue Abfahrtszeit "stoppen": 5h 06min bisher.

Trotz der Krämpfe war ich am Jaufen 1h 06min gefahren. Üblerweise werden die Krämpfe in der Abfahrt schlimmer statt besser, ich sitze total steif auf dem Rad. Nichts ist es mit Abfahrt genießen. Wegen der Krämpfe kann ich nach den Kurven so gut wie gar nicht antreten. Dann kommen auch noch ein Faststurz, bei dem ich bereits mit beiden Rädern gerutscht bin, und ein übler Verbremser, der mich fast in die Leitplanke befördert, dazu. Trotzdem kann ich vier oder fünf Fahrer überholen. Nach 22min bin ich in St. Leonhard. Eine Abfahrtszeit, auf die ich unter den gegebenen Bedingungen echt stolz bin. Unten in St. Leonhard bin ich erst mal so blau, daß ich nicht mal die Zeitnahme für den Beginn des Timmelsjochanstiegs wahrnehme (wenn ich nicht 'ne offizielle Zwischenzeit aus St. Leonhard hätte, wär ich bis heute der festen Überzeugung, daß da keine Zeitnahme war). Ich esse noch mal, trinke von dem ekligen, viel zu süßen Eistee und beschäftige mich mit der Frage, wie ich mit meinen Beinen dieses Ungetüm von Paß namens Timmelsjoch erklimmen sollte.

Das Timmelsjoch: für mich der brutalste Paß, den ich bisher kenne (liegt vielleicht aber auch daran, daß ihn bisher nur beim Ötzi befahren habe, zumindest die Südseite)

Nach der Abfahrt tun meine Beine einfach nur noch weh, sind total steif; ich habe Krämpfe an Stellen, wo ich nicht dachte, daß da Muskeln sind. Wieder das Phänomen: wenn ich den einen Krampf versuche rauszudehnen, bekomme ich an anderer Stelle den nächsten. Erneut feuert mich eine einzelne Frau am Straßenrand an; ist ja lieb gemeint, aber in diesem Moment hätte ich sie schlagen können für diese Anfeuerung. Mir ist nicht nach "Bravo!", "Hopp!" oder "Du schaffst das!" zumute. Komischerweise kommt mir nie der Gedanke daran vom Rad zu steigen und aufzugeben, nur der Gedanke aufgeben zu MÜSSEN ist allgegenwärtig. Aber wer kann mich zwingen aufzugeben, wenn ich selbst nicht dazu bereit bin?! Meine Beine nicht, denen würd ich's schon zeigen. Ein Schild kündigt den Beginn des Anstiegs zur Bergwertung Timmelsjoch an; 19,8km bis zur Labe in Schönau. Die ersten Kilometer sind eine Qual, ich weiß nicht, wie ich überhaupt annähernd schmerzfrei treten soll. Allerdings entwickle ich so langsam ein gewisses Nichtbeachten der Krämpfe. Hinter Moos wird es steiler. Hier hatte ich letztes Jahr meine schwächste Phase, mußte zum ersten Mal viele Leute am Berg ziehen lassen. Heute ist es plötzlich andersrum: obwohl es mir komplett schlecht geht, sehe ich wieder Fahrer vor mir, und sie kommen näher. Darunter auch Fahrer, die mich am Jaufen schon sehr früh abghängt hatten, so z.B. Stefan Thaller vom VCR aus Regensburg oder auch mein alter Bekannter mit dem blauen Storck und den Lightweights. Hatte ich am Jaufen trotz aller Qualen irgendwie instinktiv das Richtige gemacht?! Jedenfalls gibt mir das Überholen Moral, und die habe ich nun wirklich bitter nötig. Gegen Ende des Steilstücks hinter Moos habe ich mich an zwei Fahrer herangekämpft, die ich zuvor in der Jaufenabfahrt überholt hatte, bevor sie mich auf den ersten Kilometern des Timmelsjochanstiegs wieder stehen gelassen hatten. Dann ist endlich das Flachstück erreicht, hier wollte ich mich ein bißchen erholen, aber das Gegenteil ist der Fall: sobald die Belastung nachläßt, werden die Krämpfe wieder schlimmer. Das Flachstück wird zur Qual. Mehr als einmal weiß ich nicht mehr, wie ich eigentlich noch treten soll. Und es sind immer noch mehr als 10km, davon 8km mit einer Steigung, die man einfach nur als brutal bezeichnen kann. An der Labe in Schönau greife ich mir einfach nur im Fahren eine Flasche Wasser und fülle sie - ebenfalls im Fahren - in meine Trinkflasche um. Nach der Labe wird es sehr bald wieder steiler, einerseits schlecht, weil es Qualen bedeutet, andererseits sind an den Steilstücken die Krämpfe erträglicher. Mühsam schraube ich mich in Begleitung zweier anderer Fahrer die steilen Serpentinen empor. Plötzlich ein kurzer Schrei und wir sind nur noch zu zweit: den dritten scheint nun auch mein Schicksal getroffen zu haben, Krämpfe. Egal, dann also zu zweit weiter. Ich wechsle zwischen stehendem und sitzendem Fahren. Im Stehen immer bis die Oberschenkel krampfen, dann im Sitzen bis die Waden es den Oberschenkeln gleich tun. Längst bin ich auf dem größten Ritzel und fahre nur noch so zwischen 10 und 11km/h. Radfahren fühlt sich anders an. Die letzte Getränkestation wird erreicht, wie im Vorjahr lasse ich mir im Vorbeifahren einen Becher Cola reichen, und wie im Vorjahr schmeiße ich ihn nach drei oder vier Schlucken schon wieder weg. Ich kann bei solcher Belastung auf dem Rad nicht aus einem Becher trinken. Egal, die Cola war eh mehr für die Psyche. Aber es fährt eh nur noch der Kopf, wenn ich darüber nachdenken würde, käme ich bestimmt dahinter, daß man mit solchen Beinen überhaupt gar nicht mehr radfahren KANN. Aber absteigen, am Ende sogar aufgeben? Hier, 5km vor der Paßhöhe? Nein. Niemals. Immer noch türmen sich über mir drei, vier oder fünf Kehren auf. Ich will eigentlich nicht nach oben schauen und tue es trotzdem. Irgendwo da oben muß der erlösende Tunnel sein. Und tatsächlich, nach unzähligen schmerzvollen Kilometern kündigen Zuschauer den Tunnel und damit so eine Art Erlösung an. Hinter dem Tunnel wird es (wie üblich) saukalt, obendrein hatte schon auf den letzten Kilometern ein ekliger Wind geblasen. Also Weste an und rein in die Abfahrt. Ziemlich genau 7h 30min zeigt die Uhr, das würde ganz knapp über 8h gehen, unter 8h war leider nicht mehr drin.

"Da hast du nun deinen Traum!" steht in großen Lettern an der Paßhöhe des Timmelsjochs. Für mich war es eher ein Alptraum, vor dessen Ende die Erbauer der Timmelsjochstraße allerdings noch zwei Gegensteigungen eingebaut hatten. Zunächst ging es aber erstmal bergab, richtig schnell fahren ist leider nicht mehr drin, zum einen bläst eine strammer Gegenwind und zum anderen lassen Schmerzen in Nacken und Rücken (die Beine lasse ich jetzt mal außen vor) keine wirklich aerodynamische Sitzposition mehr zu. In den Gegenanstieg zur Mautstelle kann ich diese Jahr wenigstens mit etwas Schwung hinein fahren, trotzdem geht hier einfach gar nichts mehr. Mich überholen alleine hier nochmal drei oder vier Fahrer. Ist mir aber auch egal, ich will nur noch diese blöde Abfahrt, die teilweise keine ist, überstehen und ins Ziel kommen. Nach der Mautstelle kommen noch mal ein paar steile Bergab-Kehren, hier hatte ich letztes Jahr auf dem Zahnfleisch um meine sub9h-Zeit gekämpft. Obwohl ich sagen würde, daß ich dieses Jahr noch kaputter bin, funktionieren die Beine im nun folgenden Flachstück wieder halbwegs. Eine Fünfergruppe schließt von hinten zu mir auf; ich kann in der Gruppe sogar Führungsarbeit übernehmen. Wir holen die Fahrer, die mich im Gegenanstieg zur Maustelle überholt hatten wieder ein. Die letzte kurze Gegensteigung bei Zwieselstein stellt erstaunlicherweise kaum ein Problem dar. Und dann ist nach 227km auch schon Sölden erreicht. Die letzten 1000m, die letzten 500m, die letzten 200m, die Zielkurve, über die Brücke und dann ist es geschafft. Der erste Blick gilt der Uhr: 8h 05min 23s. Wahnsinn.

Und heute, einen Tag später. Hat dieser Ötztaler Radmarathon Spaß gemacht? Eigentlich nein. Es war Leiden ab der ersten Minute, und die zweite Hälfte waren einfach nur noch Höllenqualen. Es ist mir ein komplettes Rätsel, wie man mit solchen Krämpfen überhaupt noch radfahren kann, geschweige denn solche Pässe mit solchen Geschwindigkeiten. Ich blicke auf meine Zeiten, rufe mir die Schmerzen meiner immer noch schmerzenden Beine wieder ins Gedächtnis (so gut das eben geht), und kann nur den Kopf schütteln. Es ist schlichtweg schon jetzt für mich nicht mehr nachvollziehbar, was da passiert ist. Die Beine waren eigentlich ab dem Brenner nicht mehr zum Radfahren zu gebrauchen, mehr als einmal hab ich mich schon über das Rad gebeugt am Straßenrand stehen sehen, aber irgendeine seltsame Kraft hat mich davon abgehalten vom Rad zu steigen. Ich glaube, ich werde nie wirklich verstehen, was mich da auf dem Rad gehalten hat.

Kurze Zusammenfassung der anderen Ergebnisse:

toboxx aus dem Tour-Forum hab ich im Ziel wieder getroffen: unter 8h! Riesenrespekt und Gratulation!
Außerdem traf ich im Ziel noch K.Roo, mala (beide aus dem Tour-Forum) sowie meinen Herperdorfer Kollegen: alle sehr deutlich unter 9h, teilweise auch unter 8:30h. Auch an euch eine dicke Gratulation, falls ihr das lest.
Noch im Ziel stehend hörte ich plötzlich die Ansage "Sebastian Ohrmann aus Freiburg!", ein Blick auf die Uhr: 8:33h!!! Ich glaubte, meine Ohren kaum trauen zu können. Aber er war es wirklich. Da er etwas später über die Startlinie gerollt war als ich, stehen am Ende sogar noch 8:30h für ihn zu Buche. Unglaublich. Das allererste Mal über 200km, das auch noch beim Ötzi und dann gleich 8:30h! Eine Riesenleistung, die ich fast höher einsortiere als meine eigene.
Als Sebastian und ich den Zielbereich verließen, kamen uns kurz nacheinander Jan und Matthias auf ihrem Weg zum Ziel entgegen: beide mit 8:56h bzw. 8.58h auch noch knapp unter der magischen 9h-Marke. Fette Leistung!
Ingo kam auch nur wenig später ins Ziel: 9:16h. Ebenfalls eine Superleistung!

Wir waren mit fünf Leuten gestartet, sind mit fünf Leuten isn Ziel gekommen, davon vier Ötzi-Novizen, von denen wiederum drei auf Anhieb die 9h-Grenze unterboten haben. Ein Supermannschaftsergebnis! Die Ergebnisse der Teamwertung sind leider noch nicht online, aber vielleicht hat es ja für Top20 in der Teamwertung gereicht.

Fabio hat sein persönliches Ziel von einer Zeit um 10:30h mit 10:35h auch erreicht und hat sich damit im Vergleich zum Vorjahr um rund 2h(!!) verbessert. Auch hierzu eine Riesengratulation!

Fabio und der Autor am Abend bei der Siegerehrung

Wie im Vorjahr wurden auch dieses Jahr wieder Zwischenzeiten genommen:

Strecke

Zeit

Platz

Ötz-Kühtai

01.04.10

80

Kühtai-Innsbruck

00.44.10

71

Innsbruck-Brenner

01.06.00

40

Brenner-Sterzing

00.25.41

259

Sterzing-Jaufen

01.06.19

141

Jaufen-St. Leonhard

00.22.12

72

St. Leonhard-Timmelsjoch

02.01.30

79

Timmelsjoch-Sölden

00.35.15

188


Im Vergleich zum Vorjahr wurde die Brennerzeit etwas weiter oben gestoppt. Die Timmelsjochzeit wurde dieses Jahr wieder direkt unten in St.Leonhard gestoppt. Dieses Zeiten sind also nicht so direkt mit den Vorjahreszeiten vergleichbar. Verglichen mit dem Vorjahr hab ich mich in allen Streckenabschnitten gesteigert!

Bilder von unterwegs gibt es (aus hoffentlich verständlichen Gründen) keine. Vielleicht kommt in den nächsten Tagen noch das eine oder andere Bild dazu; Ingo und Andrea hatten auch noch ein paar Bilder gemacht.

13 August 2006

 

Chaos pur

Die Planung war gut: zwei Wochen vor dem Ötzi ein Wochenende in Andermatt, Samstags die kleine Runde (120km mit 3500Hm über Susten- Grimsel- und Furkapaß) beim Alpenbrevet unter Wettkampfbedingungen, dann am Sonntag nochmals eine Pässerunde mit Furka-, Nufenen- und St. Gotthardpaß, schließlich ist Andermatt kaum drei Autostunden von Freiburg entfernt. Fabio war schnell überredet, mindestens ebenso schnell waren wir angemeldet (ganz knapp vor Meldeschluß, danach hätte uns die Nachmeldung nochmals 25 Sfr. mehr gekostet, was bei einem Startgeld von 90 Sfr. nicht unbedingt auch noch sein muß). Nach etwas Sucherei und ein paar Telefonaten war dann in Wassen auch ein Hotel gefunden (Hotel Gerig, kann ich nur weiterempfehlen), Andermatt war zu diesem Zeitpunkt schon komplett ausgebucht. Aber es kam, wie es kommen mußte: kaum hatten wir uns angemeldet, verabschiedete sich der Sommer. Nach rund neun Wochen, in denen das Thermometer kaum merklich unter 30 Grad gefallen war, schien es, als hätte bereits der Herbst Einzug gehalten: Temperaturen im niedrigen 20-Grad-Bereich, dazu fast täglich Regen. Hinzu kamen bei mir Zweifel an der Form: die Leichtigkeit der letzten Wochen war nach dem Arberradmarathon plötzlich wie wegblasen, die Beine fühlten sich irgendwie blockiert an und insbesondere der Kopf war müde, ja des Radfahrens teilweise überdrüssig. Obendrein machten mir seit dem Arberradmarathon leichte Knieprobleme Sorgen. Alles in allem keine guten Voraussetzungen, um sich über drei Alpenpässe jenseits der 2000m zu quälen.

Die Tage unmittelbar vor dem Alpenbrevet waren in erster Linie von täglichem Überprüfen des Wetterberichts geprägt: eine Kaltfront von Norden sollte die Schneefallgrenze in den Alpen auf wenigstens 2000m sinken lassen, in weniger optimistischen Prognosen war sogar von nur 1600m die Rede! Andererseits sahen andere Wettervorhersagen wenigstens für den Samstag in Andermatt zwar kaltes, aber immerhin halbwegs trockenes Wetter voraus.
Die Anreise am Freitag bei Regen, kühlem Wetter und wolkenverhangenen Bergen war dann auch nur sehr bedingt von positiver Stimmung geprägt, insbesondere Fabio, dem schlechtes Wetter beim Radfahren mehr zusetzt als mir, bezifferte seine Startwahrscheinlichkeit eher um 0% als auf 10%. Ich selbst versuchte mir noch einzureden, daß es sich doch um "perfekte Radsportbedingungen" handle, was mir bei Fabio den Titel eines "Realitätsverweigerers" einbrachte.

Beim Abholen der Startnummern am Vorabend sind die Temperaturen in Andermatt auf ca. 1400m über NN maximal knapp zweistellig, abgesehen von kurzen Regenlücken ist beständiger Niederschlag zu verzeichnen. Die Entscheidung bereits samstags wieder abzureisen und nicht wie geplant bis Sonntag zu bleiben ist im Prinzip schon gefallen. Nach dem Abendessen ist bei Fabio vollends "immerhin war die Pasta lecker"-Stimmung, während ich nach wie vor sage, ich fahre wenigstens bis Wassen und in den Susten hinein. Nach einer unruhigen Nacht (die erste Nacht in fremden Betten schlafe ich seltenst gut) gilt der erste Blick nach dem Aufstehen dem Wetter: Regen, Regen, Regen, geschätzte Temperatur in Wassen (ca. 500m tiefer als Andermatt): maximal 10 Grad, eher weniger. So langsam reift auch bei mir die Entscheidung auf einen Start zu verzichten. Der Blick zum Wegweiser Richtung Sustenpaß verheißt auch nichts Gutes: wo gestern noch "geöffnet" stand, ist jetzt ein weißes Schild mit der Warnung vor Schneeglätte zu sehen. Just in diesem Moment ereicht Fabio eine SMS des Veranstalters: Wegen Schnee an Susten und Nufenen gibt es eine Streckenänderung: es gibt nur noch eine Strecke über Gotthard, Lukmanier und Oberalp für alle Kategorien. Diese Streckenänderung war mit der Hoffnung verbunden, daß hinter dem Gotthard im Tessin eine Wetterbesserung eintreten würde. Schnell fällt die Entscheidung pro Starten. Nach dem Frühstück fahren wir mit dem Auto hinauf nach Andermatt. Noch ca. 45 Minuten bis zum Start. Es regnet, und keiner von uns beiden wagt es die Tür des Autos zu öffnen: Kälte würde uns empfangen, aber wie kalt, das will im Moment noch keiner so richtig wahrhaben müssen.


Wetterdokumentation beim Start

Beim Zusammenbauen der Räder dann der nächste Schock: das Vorderrad läßt sich nicht aufpumpen. Alles, was ich versuche an Luft in den Reifen zu pumpen, kommt an anderer Stelle wieder heraus. Also schnell den Schlauch wechseln. Erstaunlicherweise bekomme ich den Mantel sehr schnell wieder auf die Felge, beim letzten Mal hatte ich mich mit diesem Mantel und dieser Felge stundenlang abgemüht. Schnell aufgepumpt. Ah, prima. Die Luft bleibt drin. Im kümmere mich um andere Vorbereitungen: Regenjacke, Überschuhe, lange Handschuhe, Mütze unter den Helm, Riegel und Gels einpacken, usw. Gegen Viertel vor acht will ich Richtung Startaufstellung rollen, da trifft mich der nächste Schock: das Vorderrad ist schon wieder platt. Ok, das war's, kein Start für mich. Aber ich hatte nicht mit Fabio gerechnet, er gibt mir spontan sein Vorderrad und verzichtet seinerseits auf den Start, mit dem er sich aufgrund des Wetters eh nie so richtig hatte anfreunden können ( zu meiner Verteidigung muß ich hier kurz einfügen, daß die beiden Schläuche an unterschiedlichen Stellen kaputtgegangen sind, es sich also nicht um einen "Folgeschaden" handelt). Diese weitere Verzögerung führt allerdings dazu, daß ich es nicht mehr schaffe noch eine Toilette aufzusuchen, außerdem fehlt mir die Zeit noch meine Flaschen zu füllen. Dankenswerterweise leiht mir Fabio auch noch seine bereits gefüllten Trinkflaschen (Mille Grazie!).

Fabio: statt Radfahren....

Kurz vor acht stelle ich mich in die Startaufstellung; von ursprünglichen 214 gemeldeten Startern der kurzen Runde sind vielleicht noch rund 100 übriggeblieben (die Starter der beiden großen Runden sind bereist um sieben Uhr gestartet, obwohl sie jetzt auf derselben Strecke unterwegs sind wie wir es sein sollten). Punkt acht Uhr geht es los: der Regen hat sich zwar abgeschwächt, aber so lange das Wasser auf der Straße steht, ist es relativ egal, ob das Wasser von oben oder von unten kommt. Auf den ca. drei Kilometern bis zum Beginn des Anstiegs zum Gotthard zerlegt sich das Feld bereits; da ich beim Start relativ weit hinten gestanden habe, verliere ich hier schon den Anschluß nach ganz vorne und den Überblick über meine Position. Ich schließe mich einer Gruppe von Fahrern in schweizer Nationaltrikot an, den Rädern nach zu urteilen handelt es sich Crossfahrer (diese Einschätzung sollte sich später bestätigen). Unten am Gotthard erhasche ich noch einen Blick auf einen kleinen Wegweiser für Radfahrer: 9km mit 630Hm werden mir rangekündigt. Das hört sich ja erträglich an. Denkste. Zwar gelingt es mir mich aus meiner Gruppe abzusetzen und einzelne Fahrer zu überholen (darunter allerdings auch viele MTBler, die eine halbe Stunde früher gestartet waren), aber das Gefühl der letzten beiden Wochen ist wieder da: die Beine funktionieren zwar, aber es ist kein Gefühl für's Radfahren da. Alles fühlt sich blockiert an, obwohl die Beine nicht weh tun, habe ich das Gefühl bereits jetzt voll am Anschlag zu sein. Dazu ist der Kopf nicht im geringsten bereit sich zu quälen. Den Tränen nahe kämpfe ich mich den Anstieg hinauf, dem Aufgeben, dem Fahrrad-in-die-Botanik-werfen, dem Umdrehen näher als der Paßhöhe. Vor meinem innneren Auge gebe ich den Ötztaler bereits verloren, zweifle, ob es überhaupt Sinn macht dort zu starten. In den Regen mischt sich langsam leichtes Schneegrieseln, links und rechts sind die Wiesen weiß, wie mit Puderzucker bestreut.


Wetter am Gotthard: Ja, es ist Mitte August!

Ich frage einen der begleitenden Motorradfahrer, ob auf der anderen Seite (des Passes) das Wetter besser sei; "nicht wirklich" so seine Antwort. Der Nebel verhindert, daß ich die Paßhöhe als solche wahrnehme, es wird einfach flacher und plötzlich taucht der Tunnel vor mir auf. Ich bin komplett allein, vor und hinter mir niemand zu sehen. Mit einem persönlichen Begleitmotorrad nehme ich die Abfahrt nach Airolo in Angriff. Immerhin hat es aufgehört zu regnen und die Straße ist größtenteils auch schon trocken. Kurze Zeit später werde ich von drei der Crossnationalfahrer eingeholt. Bald sehe ich auch wieso: perfekte Radbeherrschung, in jeder Kurve verliere ich ein paar Meter, insbesondere als wir nach circa der Hälfte der Abfahrt auf die alte, gepflasterte Straße umgeleitet werden. Endlich ist Airolo erreicht und das Kopfsteinpflaster liegt hinter uns. Die dortige Verpflegung lassen wir links (bzw. rechts) liegen. Weiter geht es in Richtung Biasca. Ich habe keine Ahnung wieviele Kilometer es sind noch wie der weitere Straßenverlauf ist. Zunächst geht es mal steiler mal etwas flacher bergab, zu viert lösen wir uns regelmäßig ab und legen so ein schönes Tempo vor. Die wenigen Fahrer, die wir überholen, können oder wollen unserem Tempo nicht folgen. Nur ein einziger heftet sich an unsere Fersen. Meine Führungen fallen immer kürzer aus, was aber nicht an einsetzender Müdigkeit liegt, sondern eher daran, daß sich so langsam mein verpaßter Toilettengang vor dem Start beginnt zu rächen. Einer meiner Mitfahrer erleichtert sich während des Fahrens, eine Übung, die ich mich nicht traue, ihm nachzumachen. Kurz vor Biasca werden wir von einer sehr zügig fahrenden 4 oder 5 Fahrer starken Gruppe eingeholt (später erfahre ich, daß es sich dabei um die eigentliche Spitzengruppe gehandelt hat, die sich bei der Auffahrt zum Gotthard an der Stelle, an der sich die neue und die alte Straße voneinander trennen, verfahren hatte).

Als wir hinter Biasca Richtung Lukmanierpaß abbiegen, halte ich kurz an, um mich zu erleichtern. Ein weiterer Fahrer aus meiner Gruppe tut es mir gleich. Der Rest fährt natürlich weiter. An der nächsten Verpflegung (die wir wiederum auslassen) warten zwei Fahrer der nun ehemaligen Spitzengruppe auf meinen Mitfahrer. Offensichtlich kennt einer der beiden meinen Begleiter. Zu viert, sehr bald allerdings nur noch zu dritt nehmen wir den ewig langen und zunächst nicht besonders steilen Anstieg zum Lukmanier in Angriff.

Der Autor in zweiter Position bei der Auffahrt zum Lukmanier

Konzentration und Anstrengung am Lukmanier

Schon an den ersten etwas steileren Abschnitten zeigt sich, daß ich wohl der beste Kletterer in unserer Runde bin. Noch warte ich allerdings; in den flacherern Abschnitten ist es zu dritt einfacher als alleine. Die Beine funktionieren so langsam wieder besser, und der Kopf beschäftigt sich auch wieder mit anderen Dingen als der Sinnlosigkeit des Radfahrens. Daß wir so langsam die ersten bzw. letzten der eine Stunde früher gestarteten Fahrer ein- und überholen gibt zusätzliche Moral (ich weiß, es ist fies sich daran hochzuziehen, aber ein gutes Gefühl ist es trotzdem). Hinter Olivone wird der Anstieg endlich steiler; es ist auch warm genug das Trikot zu öffnen, die Regenjacke ist schon lange im Trikot verstaut, ebenso die langen Handschuhe. Ohne groß zu beschleunigen setze ich mich von meine zwei schweizer Begleitern ab. Jetzt läuft es wieder rund. Kurze Zeit später taucht vor mir ein Trikot mit schweizer Kreuz auf: das war der erste der Nationalfahrer, die mich in der Abfahrt vom Gotthard eingeholt hatten. Ich fordere ihn auf mitzufahren. Wir unterhalten uns ein bißchen (dabei erfahre ich, daß meine Vermutung, daß sie Crossnationalfahrer sind, richtig war), obendrein sind wir beide Freiburger ;-) Er eben aus dem schweizerischen Freiburg bzw. Fribourg. Als es bei Campra kurz flacher wird, setze ich mich auch von ihm ab. Weiterhin überhole ich fleißig Fahrer, die eine Stunde vor mir gestartet waren. Langsam wird es wieder kälter, ich schließe mein Trikot wieder. Die beiden anderen der Crossfahrer hole ich ungefähr 3-4km vor dem Gipfel ein; auch sie folgen mir nur kurze Zeit. Schließlich ist die ziemlich kalte und windige Paßhöhe des Lukmaniers erreicht. Leichter Regen hat wieder eingesetzt, aber es sind wirklich nur ein paar Tropfen, die nicht einmal ausreichen, daß die Straße richtig naß wird. An der Verpflegung fülle ich schnell meine Flasche und schnappe mir ein paar der bereitliegenden Gels. Dann geht es hinein in die Abfahrt, denke ich zumindest: zunächst geht es in einen Tunnel, in dem es noch ein paar Höhenmeter weiter steigt, bevor sich die Straße nach rund 35km Anstieg wieder gen Tal neigt. Die Abfahrt ist extrem nervig: nicht besonders steil, dazu noch Gegenwind, hier ist Arbeit gefordert, um wenigstens 45km/h zu erreichen. Zum Glück findet sich ein Mitstreiter, so daß ich immerhin nicht die gesamte Abfahrt alleine im Wind stehe.

Nach rund 20km Abfahrt ist Disentis erreicht. Jetzt folgte noch der rund 20km lange Anstieg zum Oberalp, der zunächst sehr flach ist. Der Wind, der mich in der Anfahrt vom Lukmanier gebremst hatte, schiebt mich nun den Anstieg hinauf: in den ersten flachen Anschnitten fahre ich alles auf dem großen Blatt, die Geschwindigkeit liegt bei rund 25km/h, teilweise sogar darüber. Vor mir taucht der letzte Fahrer der ehemaligen Spitzengruppe auf. Auch ihn kann ich überholen. Langsam wird der Anstieg steiler, ich muß nun doch auf das kleine Kettenblatt schalten. Nach rund 12km erreicht der Anstieg dann doch alpine Steigungsprozente; so langsam macht sich Müdigkeit in den Beinen breit.

Die letzten Kehren zum Oberalp: endlich spielt das Wetter halbwegs mit

Dummerweise hab ich weder eine Ahnung wie hoch der Paß genau ist, noch wie weit es noch bis zur Paßhöhe ist. Also frage ich ein paar am Straßenrand stehende "Zuschauer", dreieinhalb Kilometer bekomme ich als Antwort. Blöd wie ich bin, vergesse ich in diesem Moment auf meinen Tacho zu schauen, so daß mir diese Information schon wenige hundert Meter später nicht mehr viel bringt. Außerdem wird es hier steil, richtig steil: zum ersten Mal am ganzen Tag brauche ich das 26er Ritzel, das größte, das ich an Bord habe. Doch auch dieses Steilstück geht vorrüber. Dafür steht ein fieser kalter Wind direkt von vorne drauf. Auch wenn der Himmel hier überwiegend blau ist, rechne ich aufgrund der Wolken, die sich am Horizont abzeichnen, immer noch damit, hinunter nach Andermatt wieder in den Regen einzutauchen. Nach einem furchtbar langen letzten Kilometer erreiche die Paßhöhe, auf ein Anziehen der Windjacke verzichte ich; das Langarmtrikot sollte für die letzten 10km nach Andermatt hinunter reichen. In weiten, schön zu fahrenden Kehren geht es hinunter nach Andermatt. Meine Befürchtungen hinsichtlich des Regens sollten sich nicht bestätigen, im Gegenteil: der mittlerweile überwiegend blaue Himmel gibt einen phantastischen Blick über Andermatt, Hospental und Realp in Richtung Furkapaß frei. Alleine für diese Aussicht hat sich der Tag eigentlich gelohnt.


So sah's dann später im Ziel aus!

Dann ist Andermatt erreicht, es geht noch kurz durch den Ort und dann über die Ziellinie: nach 5h 36min bin ich bei trockenem, sonnigem (allerdings kaltem) Wetter wieder dort, wo ich am Morgen bei gefühlten 5 Grad und Regen gestartet war. Fabio schießt noch ein paar Photos, bringt mein Rad zum Auto und bringt mir meine Tasche (Fabio, du wirst als mein persönlicher Soigneur engagiert!). Nach Rückgabe des Transponders, einem kleinen Teller Nudeln geht es dann zurück nach Freiburg.

Zielankunft: der Autor zu schnell für den Photographen!

Deshalb hier nochmal in groß!

Ein Wochenende, das drohte komplett ins Wasser zu fallen und auch sonst nicht gerade glücklich begann, hatte ein versöhnliches Ende gefunden.

Schlußbemerkung: Laut Veranstalter betrug die Streckenlänge 156,2km mit 3270Hm, meine eigene Messung ergab 159km mit 3500Hm (wobei ich zugeben muß, daß mein Höhenmesser etwas "großzügig" ist ;-)).


Meine 5h 36min reichten für den siebten Gesamtplatz (die Liste ist leider alphabetisch sortiert), Rückstand auf den Sieger rund 15min. Von den 8-Uhr-Startern war ich, soweit ich das überblicken konnte, wohl der Schnellste. Es ist allerdings reine Spekulation, ob ich schneller gewesen wäre, wenn ich um 7 Uhr gestartet wäre. So wie es mir am Gotthard ging, hätte ich dort den Schnellsten wohl eher nicht folgen können.
Die Streckenänderung war wettertechnisch die richtige (und wohl auch einzig mögliche) Entscheidung der Rennleitung, auch wenn dadurch schöne Pässe wie Susten und Grimsel durch eher unspektakuläre (und eher unangenehm zu fahrende) Pässe wie Lukmanier und Oberalp ersetzt wurden. Ich bin froh, daß überhaupt gefahren wurde!
Für die Augentiere unter uns, wird es wohl in den nächsten Tagen noch ein paar Photos geben. Fabio hat ja ein paar Bilder geschossen, die er mir zukommen lassen will.

EDIT: Bilder eingefügt!

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