10 April 2007

 

Vlaanderens mooiste

Nach einem langen, aus radfahrerischer Sicht zum Glück sehr milden Winter, stand als erster Marathon gleich ein echter Saisonhöhepunkt auf dem Programm: die Flandernrundfahrt, eines der fünf Monumente des Radsports. Der Reiz bei diesem Marathon ist insbesondere, daß die Jedermannveranstaltung auf exakt derselben Strecke wie das Profirennen ausgetragen und das obendrein auch noch genau einen Tag vor dem Profirennen, so daß sich die Möglichkeit bietet am nächsten Tag den Profis bei ihrer Arbeit zuzusehen. Aber ein bißchen mehr der Reihe nach. Über den Winter bzw. im letzten Jahr hatte sich bei mir die Idee entwickelt alle fünf Monumente des Radsports (Mailand-San Remo, Flandernrundfahrt, Paris-Roubaix, Lüttich-Bastogne-Lüttich und Lombardeirundfahrt) als Jedermannveranstaltung zu bestreiten (bis auf die Lombardeirundfahrt, bei der ich es nicht weiß, gibt es zu jedem dieser Rennen einen Marathon für Jedermann); die Flandernrundfahrt sollte den Anfang darstellen. Wie (fast) immer galt es ein paar Mitstreiter zu überreden; dieses Mal mußten Matthias und Jan "dran glauben". Die Anmeldung war problemlos online zu erledigen (für Interessierte: Flandernrundfahrt für Jedermann); ein billiges Hotel war auch bald gefunden.
Am Freitag treffen wir am späten Nachmittag in Brüssel in unserem Hotel ein und machen uns nach kurzer Inspektion des Hotelzimmers (klein, nicht luxuriös, aber sauber) auf den Weg in den Zielort Ninove, um den Abfahrtspunkt des Shuttle-Buses ausfindig zu machen, der uns am nächsten Morgen um 5.30 Uhr zum Start nach Brügge bringen sollte.

Unser Hotel: dank Containerbauweise quasi schwingend gelagert

Kurz nach der Ankunft: der Autor, Matthias und Jan (v.l.n.r.)

Nach etwas Suchen finden wir in Ninove den Abfahrtspunkt für den Shuttle-Bus und machen uns dann auch wieder auf den Rückweg nach Brüssel.

Die Straße zwischen Brüssel und Ninove: einfach schnurgerade mit einer Reihe Häuser links und einer rechts


Zurück im Hotel machen wir uns noch auf den Weg zu einer kleinen Einrollrunde, um die Beine noch ein wenig locker zu fahren. Wie an allen drei Tagen unseres kleine Ausflugs nach Flandern tut das Wetter uns einen großen Gefallen und bleibt nicht nur trocken, sondern größtenteils sogar ziemlich sonnig. Und endlich sind wir auch alle in einheitlichen Vereinstrikots unterwegs.

Matthias (links) und Jan beim Einrollen für die Ronde

Matthias (links) und der Autor

Nach der Trainingsfahrt: Jan, Matthias und der Autor (v.l.n.r.) vor dem Sponsorauto

Nach einem Abendessen im nahegelegenen Pizza-Hut (jaja, gute Sportlernahrung sieht anders aus ;-)) geht es schnell ins Bett, schließlich steht uns eine kurze Nacht bevor.
Als um 3.45 Uhr der Wecker klingelt, sind wir alles andere als ausgeschlafen, aber nach einem kurzen improvisierten Frühstück geht es ab in den Bus und nach Ninove, wo der Shuttle-Bus auf uns wartet. Schwierig gestaltet sich die Wahl der Kleidung, da es morgens doch noch sehr kalt ist, und wir nicht so genau wissen, wie warm es denn werden soll. Ich entscheide mich für kurze Hose mit Knielingen, Kurzarmtrikot mit Armlingen, zwei Langarmtrikots plus Windweste, sowie lange Handschuhe und ein paar alte Socken über die Schuhe. Exakt die richtige Entscheidung, wie sich im Laufe des Tages herausstellen sollte. Wir bauen unsere Räder zusammen und steigen in den Shuttle-Bus, der letztendlich um 5.50 Uhr startet, um uns nach Brügge zu bringen.

Unser Fuhrpark: der Autor hatte sich entschieden sein altes Rad mit klassischen 32-Speichen-Rädern zu fahren, auch das eine richtige Entscheidung

Matthias mit Startnummer

Im Bus mache ich die Augen noch mal ein wenig zu; Tribut an die kurze Nacht. An echten Schlaf ist jedoch nicht zu denken, und schließlich kommt auch die Sonne langsam über den Horizont und kündigt einen schönen Tag an, auch wenn der Wetterbericht ein paar Tage vorher für Samstag eher bedecktes Wetter angekündigt hatte. Um ca. 7.45 Uhr erreichen wir den Startort Brügge, wo wir nach kurzer Irritation den Weg zum Start finden. Hier stehen wir erstmal in der Schlange, und nach kurzer Zeit sehen wir auch warum: alle Starter werden über das Podium geleitet, auf dem am folgenden Tag die Profis zur Einschreibekontrolle erscheinen werden. Eine nette Sache, aber leider auch sehr zeitraubend. Um kurz nach 8 Uhr haben auch wir unsere Startkarten "lochen" lassen und machen uns auf die mit insgesamt etwa 20km Kopfsteinpflaster und 18 "Hellingen" gespickten 256km. Schnell ist klar, daß es sich bei dieser Veranstaltung nicht um einen Marathon wie beispielsweise den Ötztaler Radmarathon handelt, wo ein richtiges Radrennen gefahren wird, sondern um das, was in als Deutschland RTF, Radtouristikfahrt, bezeichnet wird. Naja, auch egal, suchen wir uns eben eine schöne Gruppe, in der wir schön mitrollen können. Doch auch das gestaltet sich schwieriger als angenommen: zum einen sind wir gezwungen fast die ganze Zeit auf nicht mal 150cm breiten Radwegen zu fahren, zum anderen scheinen viele nicht zu verstehen, daß man in einer Gruppe, wenn man richtig zusammenarbeitet schneller ist als alleine. Ständig fahren einzelne Leute aus unserer Gruppe nach vorne raus, um kurze Zeit später wieder eingeholt zu werden. Einer schnellen Gruppe schließen wir uns kurzzeitig an, doch auch hier wird sehr unrhythmisch gefahren, so daß wir zu dritt beschließen diese Gruppe ziehen zu lassen und unser eigenes Tempo zu fahren. Ein Holländer namens Jasper schließt sich uns an, und auch ein paar andere Fahrer vergrößern unsere Gruppe von Zeit zu Zeit.
Die Kilometer bis zur ersten Verpflegung verlaufen unspektakulär bis langweilig: die Strecke ist bretteben, breite Straßen, neben denen durch einen Standstreifen abgetrennt ein Radweg verläuft, den wir fast die ganze Zeit befahren (müssen). Das einzig Spannende ist eigentlich, wer wann den ersten Platten hat, die diese Radwege mit Glasscherben und Steinchen übersäht sind. An der ersten Verpflegung entledige ich mich meiner Übersocken, die ich kurzentschlossen einfach der Mülltonne übereigne. Nach ca. 90km hat sich eine schöne Gruppe zusammengefunden, in der drei Schweizer für Tempo sorgen; endlich wird auch die Strecke etwas abwechslungsreicher, die ersten kleineren Wellen (von Hügeln kann man da noch nicht sprechen) zeigen sich und auch die großen Hauptstraßen werden hin und wieder verlassen, und wir fahren auf kleineren Nebenstraßen. Kurze Zeit später muß ich auf Matthias und Jan warten; beide hatten dasselbe große Schlagloch erwischt und haben entsprechende Schläge in ihren Laufrädern. Da wir ohne Werkzeug wenig tun können, geht es weiter und kurze Zeit später wartet auch schon der erste Leckerbissen auf uns: nach einem kurzen Vorgeschmack von ein paar hundert Metern Kopfsteinpflaster, geht es auf das erste längere Kopfsteinpflasterstück.

Steine, Steine, Steine

Knapp 2km Geholper über einen gepflasterten Feldweg, wie man ihn sonst von Paris-Roubaix kennt (Streckenprofil mit allen "Kasseien"). Schnell ist mir klar, wie man am besten über's Pflaster fährt: großer Gang, viel Kraft und so hohes Tempo wie möglich, und dann das Gerüttel einfach ignorieren. Je schneller man fährt, umso besser kommt man über die Steine. Das größte Problem stellen langsamere Fahrer dar, die man irgendwie umkurven muß, und dabei immer wieder an Schwung verliert. Nach dem ersten Pflasterstück tun mir zwar bereits die Hände weh (vor allem die Fingergelenke schmerzen extrem und sollten auch bei den weiteren Pflasterstücken das größte Problem darstellen), aber ich habe Gefallen am Pflaster gefunden.
Danach geht es erstmal wieder auf breiten Straßen weiter in Richtung zweite Verpflegung; ein menschliches Bedürfnis seitens Matthias' zwingt uns zu einem weiteren ungeplanten Stop, aber die "Renneinstellung" haben wir am heutigen Tag eh schon abgelegt, so daß wir das Ganze eher unter einem touristischen Aspekt sehen und uns über die Erfahrung und das Erlebnis freuen. Es folgen weitere längere Pflasterabschnitte, an deren Rand man immer mehr aus Flaschenhaltern gefallene Trinkflaschen, Pumpen und ähnliches liegen sehen kann. An der zweiten Verpflegung läßt Matthias eine Speiche, die sich an seinem Hinterrad gelockert hatte, wieder festziehen, und nach diesem erzwungenen längeren Halt, geht es zu viert weiter. Mittlerweile hat sich Jasper uns vollends angeschlossen, erzählt von seinen Erlebnissen auf dem Rad und wartet immer wieder mal auf uns, genauso wie auch wir auf ihn warten. Es ist eine dieser netten Partnerschaften auf Zeit, die sich während solcher Marathons immer wieder mal bilden. Und dann geht es auch schon wieder über Steine, an deren Ende wir einen Fahrer in antiquarischem Outfit mit entsprechendem Fahrrad überholen: keine Schaltung, Wolltrikot, um die Schultern geschlungener Ersatzreifen und die obligatorischen Aluflaschen in Haltern direkt am Lenker. Ein Bild aus einer längst vergangenen Zeit, das aber eigentlich besser zum Pflaster paßt als wir mit unserem aktuellen Material.
Und dann geht es plötzlich rechts weg von der Hauptstraße und ein Schild mit der Aufschrift "Molenberg" kündigt die erste der 18 Steigungen an: grobes Pflaster, Ritzen zwischen den Steinen, daß man Angst bekommt, die Reifen könnten stecken bleiben. Zum ersten Mal tun die Beine richtig weh, und die Frage taucht auf: "Und das jetzt noch 17-mal?!" Aber viel Zeit zum Nachdenken bleibt eh nicht, nur wenige Kilometer später steht der "Wolvenberg" auf dem Programm, Nr. 2 von 18 und zum Glück asphaltiert. Danach folgt das letzte längere Flachstück bis zur dritten Verpflegung in Oudenaarde. Mittlerweile sind rund 140km absolviert, aber das "dicke Ende" sollte ja erst noch kommen.
"Kluisberg" und "Knokteberg" verschonen uns mit Kopfsteinpflaster, dafür hat Matthias am Knokteberg einen dermaßen starken Moment, daß mir schon angst und bang wird, da sich bei mir die bereits zurückgelegten rund 170km doch langsam bemerkbar machen. Als Nummer 5 steht der "Oude Kwaremont" an, der längste der 18 Anstiege, wieder mit Steinen gepflastert. Die Profis sagen, daß hier das Rennen beginnt. Aha. Ich bin eigentlich schon ziemlich alle, trotzdem machen mir die Steine weiterhin irgendwie Spaß, auch wenn ich das selbst ein bißchen bescheuert finde und jedes Mal froh bin, wenn's denn endlich wieder auf Asphalt geht, der auf den Seitenstraßen und Feldwegen allerdings auch nicht dem entspricht, was man sonst so gewohnt ist. Man wird anspruchslos, wenn man richtiges Kopfsteinpflaster kennengelernt hat. Obendrein macht sich ein leichtes krampfartiges Ziehen in meinen Oberschenkel bemerkbar, was ich später als "50%-Krämpfe" herausstellen sollte: ich hab die Krämpfe seltsamerweise nur an jedem zweiten Berg. Der nun folgende "Paterberg" stellt mit über 20% auf Pflastersteinen die ultimative Gemeinheit dar; ich wundere mich nur über Matthias, der im Wiegetritt nur so an mir vorbeifliegt, und auch Jan, bei dem es die größten Überredungskünste gebraucht hatte, um ihn zu einer Teilnahme zu bewegen, hält sich weiter wacker. "Kortekeer" heißt Gemeinheit Nummer 7; immerhin wieder auf Asphalt. Danach stehen wieder Steine auf dem Programm: ein ca. 2km langes Pflasterstück bildet den Auftakt für "Steenbeekdries" und "Taaienberg", mit dem dann schließlich Halbzeit ist. So langsam beginnen wir rückwärts zu zählen, insbesondere da die nächste Verpflegung erst nach "Helling" Nummer 16 auf uns wartet, und das Wasser in unseren Flaschen langsam aber sicher zur Neige geht. Mit dem "Eikenberg" ist der vorerst letzte gepflasterte Anstieg erreicht; die nächsten Anstiege sollten alle mit asphaltierter Straße aufwarten. Mittlerweile bin auch ich soweit, daß ich wenn möglich in der Regenrinne neben dem Pflaster fahre; die Finger schmerzen dermaßen extrem, daß es nahezu höllische Schmerzen bereitet, den Griff am Lenker zu lockern, um eine andere Griffposition einzunehmen. Ein weiteres 2km langes Pflasterstück steht uns bevor, in das man aus einer leichten Abfahrt hineinfährt; 40-45km/h zeigt der Tacho, als ich auf das Pflaster fahre, und plötzlich geht es ganz leicht über die Steine zu fahren. Das Rad springt zwar wie ein junges Pferd, aber es fällt deutlich leichter bei dieser Geschwindigkeit über die Steine zu fahren als mit beispielsweise nur 25km/h. Leider ist der Spaß nur von kurzer Dauer, da die Straße wieder leicht ansteigt und mir den ganzen Schwung raubt.
Es folgen "Boigneberg", "Leberg", "Berendries", "Valkenberg", "Tenbosse" und "Eikenmolen". Zum Glück werden die "Hellingen" kürzer und sind auch nicht mehr so steil. Leider zieht das Wetter etwas zu; die Sonne, die uns bisher begleitet hatte, versteckt sich immer mehr, und es wird auch deutlich kühler. Die sich leerenden Flaschen und die nächste Verpflegung, die noch auf sich warten läßt, tun ihr übriges, daß mir von diesem Streckenabschnitt nicht allzuviel im Gedächtnis bleibt. Dann ist endlich die vierte und letzte Verpflegung erreicht; jetzt warten nur noch die berühmte "Muur van Geraardsbergen" und der "Bosberg". Nach einer Abfahrt hinunter nach Geraardsbergen heißt es erst einmal warten; die Radfahrer werden nur grüppchenweise zur Muur gelassen, zum einen wohl um dort einen Stau zu vermeiden, zum anderen um auch dem Autoverkehr halbwegs ein Fortkommen zu ermöglichen. Und dann ist sie erreicht, die berühmte Muur-Kapelmuur: etwa 1km lang, Kopfsteinpflaster und knapp 20% steil. Hier gebe ich nochmal alles, soviel Spaß muß sein. Am Streckenrand stehen sogar Leute, die uns anfeuern, über uns kreist ein Helikopter und sogar die Sonne läßt sich noch mal blicken. Profifeeling macht sich breit. Perfekt. Einfach ein geiles Gefühl dort hochfahren zu können, alleine dafür hat sich der Tag gelohnt. Dann geht es noch über den Bosberg und die letzten paar hundert Meter Steine. Die letzten 10km absolvieren wir dann im Stile eines Mannschaftszeitfahrens und nach fast 10 Stunden Bruttofahrzeit (netto ca. 9h) erreichen wir das Originalziel der Flandernrundfahrt.
Kaputt, aber glücklich (v.o.n.u.: Jan, Matthias und der Autor):




Was bleibt, ist das Riesenerlebnis einen echten Klassiker gefahren zu sein, die Erfahrung, daß Kopfsteinpflaster Spaß machen kann (Paris-Roubaix ruft ;-)), aber auch die Gewissheit, daß es wohl eine einmalige Sache bleiben wird. Zu nervig die Fahrerei auf schmalen Radwegen, zu langweilig die flache Anfahrt bis Kilometer 140 und zu groß der RTF-Charaker der Veranstaltung. Trotzdem kann ich eine Teilnahme unter'm Strich ganz klar empfehlen!



This page is powered by Blogger. Isn't yours?