05 September 2005

 

Mein Ötztaler Radmarathon

Prolog:

Der Ötztaler Radmarathon: Traum oder Alptraum für viele Rennradfahrer. 238km mit 5500 Höhenmetern, laut Veranstalter "der wohl härteste Alpenmarathon". Eine Fahrt über vier Alpenpässe, die unterscheidlicher kaum sein könnten: zuerst der unrhythmische Kühtaisattel, bei dem sich Rampen bis zu 16% mit nahezu flachen Abschnitten abwechseln, dann der Brennerpaß, der größtenteils so flach ist, daß man ihn am besten in einer Gruppe absolviert, und nur am Ende eine größere Steigung aufweist, als dritter Paß der Jaufenpaß, der eine unheimlich gleichmäßige Steigung besitzt und zu guter letzt das Timmelsjoch, das man getrost zu den härtesten Anstiegen im Alpenraum zählen kann: fast 30km, knapp 1800 Höhenmeter, Rampen bis 14% auch und gerade auf den letzten Kilometern, Paßhöhe auf 2509m ü.NN. Diese vier Alpenpässe gilt es einmal im Jahr in Gesellschaft von 3500 anderen Rennradfahrern zu bewältigen. Die schnellsten absolvieren diese Runde in nahezu unglaublichen 7 Stunden (oder sogar knapp unter 7 Stunden), die langsamsten brauchen nahezu doppelt so lange.
In diesem Jahr war es dann soweit: auch ich wollte meine Premiere beim "Ötzi" geben. So stand ich dann am 28.08.2005 um 6 Uhr morgens gemeinsam
mit dreieinhalbtausend anderen Rennradlern am Start in Sölden. Hinter mir lagen knapp 8000 Trainingskilometer gespickt mit rund 55000 Höhenmetern. Vorgenommen hatte ich mir eine Zeit zwischen 10 und 11 Stunden, wenn alles gut läuft, könnte eine Zeit unter 10 Stunden möglich sein, so dachte ich noch am Start.

Die Fahrt über vier Alpenpässe:

Der Morgen empfängt uns mit kühlem, nassen Wetter, aber nicht so kalt, daß Ärmlinge, Knielinge und eine Windjacke nicht gereicht hätten, auch wenn die ersten Meter aus der Pension heraus furchtbar kalt sind. So rolle ich gegen 5.50 Uhr langsam in Richtung Startaufstellung und stehe dann doch ziemlich weit vorne, ca. 250m vom Startbogen entfernt. Punkt 6.35 Uhr höre ich den Startschuß fallen, bis ich über die Startlinie rolle, vergehen nochmals rund 5min, so daß ich 6.40 Uhr in meinem Kopf als meine Startzeit notiere.

Die Abfahrt nach Oetz gehe ich ruhig an, halte mich möglichst aus allen Scharmützeln heraus, und wider Erwarten verläuft die Abfahrt gänzlich problemlos, die einzige brenzlige Situation entsteht beim Einbiegen in den Kühtaianstieg, wo alle etwas über die plötzliche Rechtskurve überrascht sind, und ich meinem Vordermann fast hinten auffahre. Jetzt geht’s also los, 18km Anstieg, Rampen bis 16%, aber auch flachere Passagen. Das Wetter scheint sich etwas zu bessern, die Straße ist an manchen Stellen schon etwas abgetrocknet, ich meine stellenweise etwas blauen Himmel erahnen zu können, immerhin war uns ja eine Wetterbesserung für den Tagesverlauf noch am Start versprochen worden. Ich gehe den Anstieg verhalten an, orientiere mich an meiner Pulsuhr: nicht über 160 ist die Devise, was mir bis auf ein paar Steilpassagen auch gut gelingt. Das erste Flachstück wird genutzt, um die Windjacke auszuziehen, bloß nicht unnötig Zeit verlieren. Der Anstieg verläuft insgesamt eher unspektakulär, ich fühle mich gut. Ca. 2km unterhalb des Gipfels fängt es leicht an zu regnen, was mich aber nicht weiter stört. Oben werden wir von begeisterten Zuschauer empfangen; es ist schon extrem beeindruckend, wie viele Zuschauer sich an die Strecke verlieren und wirklich jeden Fahrer anfeuern. Oben laß ich mir nur kurz die Trinkflasche füllen, ziehe die Jacke wieder an und stürze mich in die Abfahrt. Was folgt ist die schnellste Abfahrt, die ich kenne: 95km/h Höchstgeschwindigkeit, irgendwann denke ich mir, „ui, jetzt ist’s aber wieder langsam“, schaue auf den Tacho: 66km/h!! Aufgrund der nassen Straße sind meine Socken bald komplett durchnäßt, und meine Füße werden eiskalt. Abgesehen davon fühle ich mich gut, auch der Regen und die Kälte machen mir erstaunlich wenig aus. Vor kalten und nassen Abfahrten hatte ich mich im Vorhinein gefürchtet, aber heute macht mir das gar nichts aus.

Kurz vor Kematen treffe ich auf zwei Italiener, die ein schönes Tempo vorlegen, bald sehe ich auch warum: ca. 200m vor uns liegt eine große Gruppe von etwa 30 Fahrern; eine solche Gruppe kann den Brenner hinauf Gold wert sein, wenn sie gut läuft. Das war genau die Situation, auf die ich in meinen Vorüberlegungen spekuliert hatte. Also, nichts wie hinten rangeklemmt bei den beiden Italienern, es gesellt sich noch ein vierter Fahrer zu uns; zu viert machen wir uns dann auf die Verfolgung der Gruppe. Komischerweise nehmen mich die Italiener nicht in die Führung, sondern lösen sich vorne zu zweit ab. Gut, von mir aus, lieg ich halt hinten drauf, mir soll’s recht sein. Kurz vor Beginn des Brenneranstiegs haben wir die Gruppe erreicht, und schon geht es nach rechts weg, die Zeitnahmematte kündigt den Beginn des Anstiegs an. Mittlerweile regnet es etwas stärker, auf der Straße steht das Wasser, trotzdem ziehe ich die Jacke aus, noch schnell nach vorne gesprintet als die Gruppe in zwei Teile zu zerfallen droht, dann geht es in gleichmäßig hohem Tempo den nicht allzu steilen Anstieg zum Brenner hinauf. Die Gruppe rollt phantastisch, hat genau das richtige Tempo für mich, schnell genug, um wenig Zeit zu verlieren, langsam genug, um nicht zu überziehen. Der Puls bewegt sich immer bei Werten zwischen 140 und 150. Perfekt. Leider fängt meine Blase aufgrund der Kälte gewaltig an zu drücken. Wenn ich jetzt absteige, ist die Gruppe weg, also: weiterfahren, sind ja nur noch rund 25km bis zum Brenner. Das letzte Stück zur Paßhöhe wird nochmals steil, die Gruppe zerfällt, ich halte mich zurück, versuche auch weiterhin den Puls nicht in zu große Höhen zu treiben. Oben dann die ersehnte Labe, ich suche mir erst einmal eine Ecke, um pinkeln zu können. Ich wusste gar nicht, dass soviel Urin in meine Blase passen kann, ich stehe bestimmt zwei Minuten da und bin nur am pinkeln. Noch kurz die Flaschen aufgefüllt, den Müll der bisher verdrückten Riegel ordnungsgemäß entsorgt (es ist eine furchtbare Unsitte bei solchen Veranstaltungen in Profimanier einfach seinen Müll in die Landschaft zu pfeffern, aber es ist ja so uncool den Müll wieder in die Trikottasche zu stecken und an einer Labe zu entsorgen), ein Gel reingewürgt (bäh, schmeckt immer wieder eklig, aber hilft) und ab geht’s in die Abfahrt nach Sterzing. Leider ist meine Gruppe mittlerweile in ihre Bestandteile zerfallen, so daß ich die Abfahrt erst mal alleine in Angriff nehme.

Die Abfahrt ist eklig, breite Straße, kein großes Gefälle, immerhin ist die Straße mittlerweile trocken. Ich werde von drei Fahrern eingeholt, die ich aber nach einigen (mehr oder weniger kraftraubenden) Versuchen im Windschatten zu bleiben fahren lasse. Ich lasse mich dann von drei weiteren Fahrern einholen, in schönen Ablösungen fahren wir bis zum Fuß des Jaufenpasses. Hier zeigt sich dann, daß ich wohl doch eher zum Kletterer denn zum Rouleur geboren bin: meine drei Begleiter lasse ich gleich stehen, dann kommt mir ein Fahrer nach dem anderen aus meiner Gruppe von den Brennerauffahrt entgegen. Wie ich in einem kurzen Gespräch mit einem Österreicher, der ebenfalls in meiner Brennergruppe gewesen ist, erfahre, hatte er oben am Brenner Bekannte stehen, die ihn verpflegt haben. Da war er wohl nicht der einzige! Egal, weiter geht’s mit meiner „Aufholjagd“. Mein Puls hat sich bei Werten zwischen 150 und 160 eingependelt, die Geschwindigkeit so bei 12-14km/h. Ich fühle mich richtig wohl; daß ich eigentlich nur überhole und fast nicht überholt werde, gibt mir zusätzliche Moral. Mit dieser Moral ist es aber ganz plötzlich vorbei, als ich über die Baumgrenze komme und sich noch mindestens vier Kehren mit geschätzten 200 Höhenmetern vor mir aufbauen, der Tritt wird eckig, das gute Gefühl ist plötzlich weg. Leute, die ich eigentlich schon überholt hatte, fahren wieder an mir vorbei. Zu allem Überfluß macht sich auch noch so ein komisches Gefühl in der Magengegend breit: Hunger! Das kann doch gar nicht sein, denke ich, ich hab doch genug gegessen. Komm, noch über den Paß drüber, dann kommt eine Labe, versuche ich mich zu motivieren. Zum ersten Mal bin ich froh, daß ich zu meiner Kompaktkurbel mit 33er Kettenblatt auch noch ein 29er Ritzel montiert habe. Mit dieser kleinsten Übersetzung stampfe ich mehr zum Gipfel, denn daß ich einen flüssigen Tritt hätte. Egal, irgendwann ist auch der Jaufenpaßgipfel erreicht. Jacke an, und ab in die Abfahrt. Nach ca. 2km Abfahrt kommt die ersehnte Labe, ich greife mir ein Brot mit Frischkäse (was ein Genuß bei all dem süßen Zeug den ganzen Tag) und ein Stück Schokoladenkuchen (boah, war der lecker!!). Mit vollem Mund nuschle ich irgendetwas, was „Eistee“ heißen sollte, jedenfalls werde ich verstanden und bekomme meine Trinkflasche mit eben jenem Eistee gefüllt. Noch eine Banane zum Abschluß, die ich allerdings dann schon wieder im Fahren verzehre. Solchermaßen gestärkt stürze ich mich in die geilste Abfahrt, die ich kenne: schnelle Geraden, flüssige S-Kurvenkombinationen, enge Spitzkehren, und das ganze auf komplett gesperrter Strecke (großes Lob an die Veranstalter, an jeder kritischen Stelle stand ein Carabinieri)! Hier kann man als guter Abfahrer richtig Zeit gutmachen. Wie schon bergauf bin ich fast nur damit beschäftigt Leute zu überholen. Nach 24 Minuten (inklusive Stop an der Labe) ist der Spaß allerdings zu Ende, und der Scharfrichter des Ötztaler Radmarathons, das Timmelsjoch steht bereit.

Direkt aus der Abfahrt des Jaufenpasses geht es in das Timmelsjoch hinein. Mittlerweile ist es sogar fast so etwas wie warm, also wieder die Jacke aus, Ärmlinge nach unten gerollt und auf in den Kampf. Dieser Kampf entpuppt sich für mich auf den ersten Kilometern allerdings eher als Krampf, an den ersten steilen Rampen ist er wieder da: der eckige Tritt, den ich auch schon auf den letzten Kilometern zum Jaufen hatte. Das kann ja heiter werden. Zum ersten Mal werde ich am Berg von wirklich vielen Leuten überholt, ohne daß ich meinerseits welche überholt hätte. Unter den Überholenden ist sogar ein Einbeiniger, der sein Rad nur mit der Kraft des einen verbliebenen Beins die erbarmungslosen Rampen hinauftreibt. Meine allertiefste Verbeugung und größte Hochachtung vor solch einer Leistung! Endlich wird der Anstieg etwas flacher, ich unterhalte mich kurz mit einem meiner Mitstreiter. Wir kommen auf das Thema „Zielzeit“ zu sprechen. Ich erzähle, daß ich gerne unter 10 Stunden fahren würde und ganz optimistisch sei, es zu schaffen. Die Antwort, die ich bekomme, ist, daß 10 Stunden gar kein Problem darstellen würden, es würde im Moment sogar eher in Richtung unter 9 Stunden gehen. Ich witzele noch, daß ich ihn dann fahren lassen würde, wenn er seinen Angriff auf die 9 Stunden startet, kurze Zeit später bin allerdings ich es, der unsere Zweisamkeit beendet. Die Aussicht auf eine Zeit unter 9 Stunden und die nachlassende Steigung setzen ungeahnte Kräfte in mir frei. Der Tritt wird wieder runder, ich schalte zwei Gänge größer und plötzlich kommen mir all jene entgegen, die ich am Beginn des Timmelsjochanstiegs hatte ziehen lassen müssen. An der vorletzten Labe gibt es dann die erste Cola, ich würge mir noch ein (koffeiniertes) Gel rein, ein letztes Mal lasse ich mir meine Flasche mit Eistee füllen und dann geht’s auch schon weiter, jetzt habe ich keine Zeit mehr zu verlieren. Kurz hinter Labe steht dann ein Schild: noch 11,4km bis zum Gipfel. Ich beginne zu rechnen, wie lange brauch ich noch bis oben, wie viel Zeit hab ich dann für die Abfahrt, ich schätze, daß ich für die Abfahrt zwischen 35 und 40 Minuten brauchen werde. Das wird knapp! Also weiter, nicht nachlassen, es geht um die 9 Stunden! Der Puls ist mir mittlerweile egal, höher als 165 geht er eh nicht mehr. Dann ist auch die Baumgrenze erreicht und vor mir türmt sich ein Steilhang auf, der einen Blick bis zur (erahnten) Paßhöhe zuläßt. Ich weiß nicht, ob dieser Anblick mich motiviert oder frustriert, einerseits ist es nicht mehr weit, andererseits wird es jetzt wieder steiler, sehr steil. Ich halte noch mal kurz an, um Wasser zu lassen. Warum dauert das nur so lange?! Ich will doch weiter! Nach einer Ewigkeit steige ich wieder aufs Rad, jetzt wird’s steil. Also, das letzte Gel reingedrückt mit einem großen Schluck Eistee nachgespült, jetzt bloß keinen Hungerast mehr riskieren. Längst habe ich wieder 33/29 gekettet, rund ist der Tritt trotzdem nicht mehr. Die Geschwindigkeit pendelt zwischen 8 und 10 km/h, meine Beine schmerzen, der Rücken sowieso. Ich wechsle zwischen sitzendem Fahren und Wiegetritt, um wenigstens hin und wieder den Rücken zu entspannen und in den Beinen auch mal ein paar andere Muskeln arbeiten zu lassen. Um mich herum sind alle am kämpfen, und wenn ich die Trittfrequenzen der anderen so betrachte, bin ich mehr als froh über meine 33/29er Übersetzung. Hätte ich einen noch kleineren Gang an Bord gehabt, ich hätte ihn auch noch benutzt. Dann, knapp 7km unterhalb des Gipfels die letzte Labestation: ich rufe nur „Cola, bitte!“ und lasse mir im Fahren einen Becher Cola reichen. Mit Mühe trinke ich ein paar Schlücke, so richtig geht das bei 12% Steigung und maximaler Anstrengung auch nicht mehr. Eine Flasche oder Dose wäre mir lieber gewesen, mit dem blöden Becher komme ich gar nicht klar. Also, weg damit! Was folgen sind die härtesten Kilometer, die ich je hinter mich zu bringen hatte. Hier kämpft jeder für sich allein, und abgesehen von den absoluten Spitzenfahrern, sind hier wahrscheinlich alle Teilnehmer nur noch am kämpfen und würgen. Im Vergleich zu den anderen komme ich aber immer noch recht gut voran. Nach ewigen Kilometern (die letzten 3km zum Timmelsjoch hätt’ ich echt nicht mehr gebraucht) ist der erlösende Tunnel endlich erreicht, es wird tatsächlich flacher. Leider wird es hinter dem Tunnel auch schlagartig kälter und furchtbar neblig. Aber sogar hier stehen noch ein paar Leute, um uns anzufeuern. Ich frage im Vorbeifahren, wie weit es noch sei, und bekomme „50 Meter!“ als Antwort. War die Paßhöhe doch tatsächlich nicht mal aus 50mEntfernung zu sehen, trotz aufgebauten „Red Bull“-Torbogens und ehemaligen Grenzhäuschens. Ein schneller Blick auf die Uhr: 15.00 Uhr. Nach meiner Rechnung bin ich um 6.40 Uhr über die Startlinie gefahren; ich habe also noch 40min für die 25km lange Abfahrt inklusive Gegensteigung. Dummerweise habe ich mit meiner Stoppuhr, die ich extra bei jedem Stopp habe weiterlaufen lassen, um eine Orientierung über meine Gesamtzeit zu haben, Zwischenzeiten gestoppt, so daß mir nur die jeweilige „Runden“zeit, aber nicht die Gesamtzeit angezeigt wird. Deshalb muß ich zu dieser Krücke mit der Uhrzeit greifen, die natürlich mit einer gewissen Ungenauigkeit versehen ist. 40min Zeit bei diesem Nebel, das würde knapp werden.

Todesmutig stürze ich mich in den Nebel, zum Glück kannte ich die Abfahrt einigermaßen, da ich im Vorjahr das Timmelsjoch von dieser Seite aus erklommen hatte. Trotzdem verbremse ich mich in der ersten Kehre erst mal ganz gewaltig, das Wasser des Nebels auf den Felgenflanken hatte die Bremsen zunächst auch noch ziemlich wirkungslos sein lassen. Nach dieser Schrecksekunde lasse ich es etwas ruhiger angehen, versuche aber dennoch so zügig wie möglich runterzufahren. Vor mir taucht ein Motorrad aus dem Nebel auf, ich erinnere mich an die Geschichte von Jacques Anquetil, der bei einer Tour de France auf einer nebligen Pyrenäenabfahrt ein Begleitmotorrad als Positionslicht benutzt hat, um eine Spitzengruppe wieder einzuholen. Leider fährt das Motorrad in meinem Fall zu langsam, um mir dienen zu können. Ich überhole es und bin wieder auf mich allein gestellt. Vor mir tauchen immer wieder andere Fahrer auf, die sich noch langsamer und vorsichtiger bergab tasten. Die schöne lange Gerade, auf die ich mich so gefreut hatte, wurde zu einer vorsichtigen Schleicherei, immer mit der Befürchtung, es könnte ja doch noch eine Kehre auftauchen. Doch anstelle einer weiteren Kehre taucht diese vermaledeite Gegensteigung zur Mautstation auf. Hier spüre ich, daß ich am Timmelsjoch einfach mein Pulver verschossen habe, der Akku ist leer. Ich kämpfe und fluche mich durch den Nebel. Ein Mitstreiter überholt mich, fragt mich wie weit es noch sei, ich weiß es in diesem Moment auch nicht. Also frage ich ein paar Zuschauer, die hier am Streckenrand standen. „200m!“ wird mir zugerufen, „200m!“ rufe ich meinem mittlerweile enteilten Mitstreiter hinterher. Wehe, diese 200m würden nicht stimmen!! Zum Glück stimmen sie, und die erlösende Mautstation taucht aus dem langsam lichter werdenden Nebel auf. Noch ein Stück weiter unten, hat sich der Nebel ganz verzogen, die Straße neigt sich auch wieder in die richtige Richtung, in steilen, engen Kehren geht es auf den Abzweig nach Obergurgl zu. Ich kann wieder zu dem Fahrer vor mir aufschließen, nur um im nun folgenden Flachstück sein Hinterrad wieder zu verlieren. Wann geht es endlich wieder bergab?! Die Abfahrt wird immer wieder von kurzen Flachpassagen und leichten Gegensteigungen unterbrochen, beides ist Gift für mich in meiner Verfassung. Über die letzte Kuppe schleppt mich ein Italiener, kurz bevor es in die letzten Kurven vor Sölden geht, kann ich nur noch ein kurzes „Grazie!“ hervorwürgen, seine Antwort verstehe ich nicht, ich kann ja (leider) immer noch kein Italienisch. Es geht durch die letzten Kehren bergab nach Sölden, ein letztes leicht abschüssiges Stück durch Sölden, über die Straße gespannte Banderolen kündigen die letzten tausend, fünfhundert, zweihundert Meter an. Das Hinterrad des Italieners hab ich auch wieder verloren, ich bin einfach zu kaputt. Mit dem Gedanken an die 9 Stunden versuche ich die letzten Kräfte zu mobilisieren, die begeisterten Zuschauer auf den letzten Metern tun ihr bestes, um mich zu meinen 9 Stunden zu schreien, aber wo keine Kräfte mehr sind, kann man auch keine mehr mobilisieren. Es geht nach rechts über eine Brücke in Richtung Ziel, „jetzt nur nicht noch dumm stürzen in der letzten Kurve“ schießt es mir durch den Kopf. Doch auch diese letzte kleine Klippe meistere ich und rolle über den Zielstrich. Ich drücke den Stoppknopf meiner Stoppuhr und endlich bekomme ich meine Gesamtzeit angezeigt: 8h 58min 47s. Wenn das stimmte, hatte ich die 9 Stunden tatsächlich gleich bei meiner ersten Teilnahme geknackt. Nach einem kurzen Gespräch mit einem TOUR-Forumskollegen, den ich schon am Kühtai getroffen hatte und einem (alkoholfreien) Radler verlasse ich den Zielbereich, um mich unter die wohlverdiente Dusche zu stellen.

Epilog:

Ich konnte die 9 Stunden tatsächlich knacken, meine handgestoppte Zeit war erstaunlich gut:
8h 58min 31s standen am Ende offiziell für mich zu Buche. Das bedeutete den 223. Gesamtrang und den 102. Rang in meiner Klasse. Für alle Interessierten gibt es hier noch ein paar Zahlen:

Übersetzung: 50/33 auf Kompaktkurbel mit 12-29er 10-fach Kassette (umgebaut aus einer 13-29er)

Abschnittszeiten:

Strecke

Zeit

Platz

Ötz

0:42:42

1118

Kühtai

1:17:16

528

Innsbruck

0:45:28

275

Brenner

1:20:41

294

Sterzing

0:30:18

574

Jaufen

1:10:13

231

St. Leonhard

0:40:38

202

Timmelsjoch

1:54:38

129

Sölden

0:36:37

221

(Anmerkungen des Autors: Die Abfahrtszeit vom Jaufen wurde nicht genau in St. Leonhard gestoppt, sondern etwas weiter oben bereits im Anstieg zum Timmelsjoch, so dass die effektive Abfahrtszeit ca. 15min kürzer war, und die Zeit für den Anstieg zum Timmelsjoch entsprechend 15min länger; die Platzierungen beziehen sich auf die Platzierung im jeweiligen Anschnitt)

Für alle Interessierten: http://www.oetztaler-radmarathon.com/


Comments:
Hey Marco du Krasso!
Hut ab und Glückwunsch, echt ne Bombenleistung! Ich war auch in den Alpen die letzten 2 Wochen, allerdings zum Bergsteigen und Gletscherwandern. Mehr dazu bald in meinem Blog, immerhin schon etwas mehr Einträge als in deinem... ;-)
 
super story !!!
 
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