28 Juni 2009

 

Offene Rechnungen...

Les Trois Ballons – mit diesem Marathon hatte ich noch eine Rechnung offen. Nachdem ich vor zwei Jahren nach einer 70 km langen Solofahrt am Schlußanstieg reihenweise Positionen eingebüßt hatte und am Ende Platz 20 belegt hatte, sollte dieses Jahr alles besser werden. Hier gut zu fahren war eines meiner erklärten Saisonziele gewesen, und nach meinem überaus guten Abschneiden in Gerolstein schien mir auch eine gute Platzierung bei Trois Ballons in Reichweite. Dumm nur, daß die unmittelbare Vorbereitung unter keinem guten Stern stand. Es paarten sich Ärger bei der Arbeit mit schlechtem Wetter und Streß mit dem Material. Daraus resultierte ein nicht unerheblicher Verlust an Motivation sowie das Gefühl nicht mehr in der Form von Gerolstein zu sein.
Immerhin durfte ich wie vor zwei Jahren schon aus dem ersten Startblock starten, in dem ich dann gemeinsam mit Jan, Flo und Steffi, die sich das erste Mal überhaupt an eine Distanz von über 200 Kilometern heranwagte, kurz nach 7.00 Uhr stehe. Das Wetter verspricht überaus schön zu werden – immerhin, war es doch in den Tagen zuvor eher mäßig gewesen. Nach einem kurzen Plausch mit Harry (einer der norwegischen Leidensgenossen), fällt um 7.15 Uhr der Startschuß und in zunächst gemählichem Tempo geht es aus Champagney hinaus in Richtung des ersten Anstiegs, dem Ballon de Servance. Ich versuche mit sofort nach vorne zu orientieren, da ich von meiner letzten Teilnahme her noch wußte, daß die Straße sukkzessive immer schmaler werden würde, und es später im Anstieg noch mehr Kraft kosten würde nach vorne zu fahren. Dies gelingt mir ach gut; bald befinde ich mich gemeinsam mit Flo unter den ersten Zehn. So geht es dann auch hinein in den ersten Anstieg, der zunächst nur leicht ansteigt. Vorbei geht es am Abzweig zum späteren Schlußanstieg. Langsam wird die Straße steiler und schmaler und das Tempo höher. Ich halte mich weiterhin ganz vorne im Feld, will auf keinen Fall den Anschluß verpassen – schließlich hatte sich vor zwei Jahren die entscheidende erste Gruppe bereits hier abgesetzt. Dieses Mal will ich auf Risiko gehen und mich unbedingt in dieser ersten Gruppe halten. Vorne macht ein Fahrer in grauem Trikot mit einem roten Rad das Tempo. Und dieses Tempo ist schnell. Kurzer Blick auf den Puls: 186. Schnell wieder wegschauen und weiterfahren. Die Beine fühlen sich merkwürdig an: irgendwie dick, aber sie funktionieren (noch) richtig gut. Also weiter dranbleiben. Oben auf der Paßhöhe sind wir vielleicht noch 15 Fahrer in der Gruppe. Am Hinterrad von Flo rolle ich als Sechster oder Siebter über den ersten Berg. Ok, das wäre schon mal geschafft. Jetzt folgt die ziemlich unangenehme Abfahrt: schlechte Straße, viel Split, unübersichtliche, teilweise nach außen hängende Kurven. Kurzum eine Abfahrt, bei der man froh ist, wenn sie vorüber ist. Ich bin zunächst mal zufrieden, daß mein Plan n der ersten Gruppe über den Ballon de Servance zu kommen aufgegangen ist. In der folgenden Ebene schläft das Tempo allerdings relativ bald ein; ich nutze das, um mich zu verpflegen. Durch das extrem gemächliche Tempo (und vielleicht auch noch einer zusätzlichen roten Ampel, die uns kurzzeitig ausbremst) schließt eine ziemlich große Gruppe von hinten wieder auf, so daß die Gruppe jetzt aus sicherlich 50 Fahrern besteht.
Die nächsten beiden „Cols“, der Col du Ménil (der kaum den Namen verdient) und auch der Col d'Oderen, werden überfahren, ohne daß viel passiert. Zeit um Schwätzchen zu halten. Jetzt erkenne ich auch den Fahrer mit grauem Trikot und rotem Rad: Jens Volkmann, der Vorjahressieger. Er habe nur als Erster in die Abfahrt gehen wollen, so seine lapidare Erklärung, als ich scherzhaft meine, jetzt sei mir klar, wieso das Tempo am Ballon de Servance so hoch gewesen ist.
Für den nächsten Berg, den Col de Bramont, rechne ich mit einer Tempoverschärfung und Attacken. Ich versuche weiterhin mich vorne im Feld aufzuhalten, auch wenn die Beine sich komisch dick anfühlen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl: einerseits funktionieren die Beine gut, andererseits dieses seltsame dicke Gefühl. Egal. Weiterfahren. Am Bramont wird wie erwartet das Tempo hochgehalten; Jens Volkmann hat zwei Teamkollegen, die diese Arbeit für ihn erledigen. Und kurz vor dem Gipfel, der allerdings nur von einer sehr kurzen Abfahrt gefolgt wird, bevor es den steilen Anstieg auf die Route des Crêtes hinaufgeht, die Attacke von Jens Volkmann – ich steige mit einigen anderen, darunter auch mein Teamkollege Flo, hinterher. Über die Kuppe kann ich noch dranbleiben, bei der zweiten Attacke muß ich einsehen, daß ich bis hierhin weit über meine Verhältnisse gelebt habe. Zunächst geht die Lücke nur zögerlich auf, aber dann verliere ich relativ bald den Sichtkontakt, auch zu meinem Teamkollegen. Fahrer um Fahrer überholt mich. Über die nun folgenden 20 Kilometer bis zum Grand Ballon decke ich geflissentlich den Mantel des Schweigens.
Am Grand Ballon bin ich ganz allein. Ich nehme mir die Zeit anzuhalten, mich kurz mit meinen Eltern zu unterhalten und eine neue Trinkflasche anzunehmen. An dieser Stelle ist das Rennen für mich gelaufen. Die Hand ist schon am Klettband des Transponders, um ihn meiner Mutter in die Hand zu drücken, was ich dann aber doch bleiben lasse. Langsam und unmotiviert rolle ich weiter. Und wen sehe ich dann am Straßenrand stehen am Kofferraume eines Autos, Helm abgelegt, Fahrrad an einen Pfosten angelehnt? Jens Volkmann. Na danke, erst mich aus den Schuhen fahren und dann aussteigen. Auf meinen Vorschlag die letzten 100 Kilometer als besseres Training zu Ende zu fahren, geht er nicht ein. Ich halte noch mal kurz zum Pinkeln an. Von hinten kommt immer noch niemand. Während ich wie ein Anfänger auf einer katastrophalen Linie die Abfahrt vom Grand Ballon hinunterfahre, überlege ich, ob nicht vielleicht sogar auf Steffi warten soll, oder wenigstens auf Jan, den ich in der Spitzengruppe auch nicht mehr gesehen hatte und daher hinter mir wähne.
Als in der Abfahrt so langsam meine Lebensgeister wieder erwachen, sehe ich plötzlich Flo in einer Serpentine stehen, der just in dem Moment als ich vorbeikomme von seinem Vater wieder in die Abfahrt geschoben wird. Was ist denn da passiert? Ich verstehe in der Abfahrt kaum, was mir Flo versucht zuzurufen, aber irgendwie hat er ein Problem mit seinem Sattel gehabt. Soviel verstehe ich. Ich gebe ihm zu verstehen, daß für mich das Rennen gelaufen ist, ich aber für ihn fahren würde, wenn er das möchte. Zügig fahren wir bergab. Schnell haben wir zwei Fahrer eingeholt. Es folgt der Anstieg zum Col du Hundsruck. Hier fragt mich Flo, ob ich nicht zufällig einen 4er-Inbusschlüssel hätte, er müsse seinen Sattel festschrauben. Ich gebe ihm während des Fahrens mein Satteltäschchen, in dem sich mein kleines Multitool befindet. Ich biete ihm an auf ihn zu warten, und rechne damit, daß er anhalten würde, um seinen Sattel wieder festzuschrauben. Immer wieder schaue ich nach hinten, um ihm nicht zu weit wegzufahren, und wundere mich, daß er nicht anhält. Schließlich sehe ich, wie er unter der Fahrt die Schrauben seiner Sattelstütze festzieht. Wenn ich nicht so kaputt wäre, würde ich mir wohl ein Schmunzeln ob dieser Aktion nicht verkneifen können. Gemeinsam erklimmen wir den Col du Hundsruck. Da es mir wieder etwas besser geht, mache ich hier den Großteil der Führungsarbeit. „4 Minuten Rückstand auf die nächste große Gruppe!“, ruft uns mein Vater auf der Paßhöhe zu. Wir stürzen uns in die Abfahrt.
Auf dem folgenden Flachstück bis zum Ballon d'Alsace legt vor allem Flo ein geradezu höllisches Tempo vor: wenn er im Wind fährt, pendelt sich die Geschwindigkeit bei 40 bis 41 km/h ein, ich selbst kann meine Ablösungen mit vielleicht 38 km/h fahren. Dennoch sind wir zu zweit dermaßen zügig unterwegs, daß wir bis zum Fuß des Ballon d'Alsace nur noch zweieinhalb Minuten Rückstand auf die Gruppe vor uns haben. Die ersten zurückfallenden Fahrer haben wir auch eingeholt. Gemeinsam, uns regelmäßig abwechselnd nehmen wir den fast 10 Kilometer langen Anstieg in Angriff. Während wir im unteren Teil des Anstiegs durch die Landschaft wenigstens noch halbwegs für unsere Qualen, mittlerweile ist es auch ziemlich warm geworden, entschädigt werden, ist die zweite Hälfte des Anstiegs dann mehr oder weniger pures Leiden. Dazu kommen widersprüchliche Angaben über die verbleibenden Kilometer bis zum Gipfel.
Aber irgendwann ist auch dieser Gipfel erreicht, und in der Abfahrt gelingt es uns einen weiteren Fahrer einzuholen. Gemeinsam mit diesem Fahrer holen wir bald noch zwei weitere Fahrer ein, so daß wir für die nun folgende rund 30 Kilometer bis zum Schlußanstieg immerhin eine Fünfergruppe haben.
Ich beginne zu rechnen, ob es vielleicht trotz meines Totalausfalls zwischen Kilometer 80 und 105 noch zu einer Zeit unter sieben Stunden reichen könnte. Wie sich bald an den zahlreichen Wellen herausstellt, sind Flo und ich die stärksten Fahrer in der Gruppe. Dennoch sind immer noch rund 25 km plus Schlußanstieg zu absolvieren. Und vor diesem Schlußanstieg habe ich mächtig Respekt. In unserer Gruppe fallen die Führungen immer kürzer aus, einzig Flo scheint noch in der Lage ein halbwegs hohes Tempo zu gehen. Kurz vor dem Abzweig zum Schlußanstieg lasse ich hinter ihm einfach abreißen, als er in die Führung geht; da kein anderer hinterherfährt, rufe ich ihm noch hinterher, er solle fahren. Ich selbst schalte sofort in den kleinsten Gang, und hoffe das 5 Kilometer lange Martyrium, genannt Bergankunft an der Planche des Belles Filles, mit Anstand hinter mich zu bringen. Von meinen Eltern lasse ich mir wie verabredet eine Cola reichen, später noch Wasser, das ich mir aber in erster Linie zum Kühlen über den Kopf schütte. Ich leide nicht richtig, aber schneller fahren will und kann ich auch nicht mehr. Ich zähle die Kilometer rückwärts und versuche mich zu erinnern, ob es hinter der jeweils nächsten Kurve steiler oder flacher wird. Ein paar vereinzelte Teilnehmer der kurzen 100 km-Runde sind schiebenderweise am Straßenrand zu sehen – unglaublich, geht es mir durch den Kopf, wir sind fast doppelt so schnell unterwegs wie dieses Fahrer. Nachdem ich am Anfang des Anstiegs noch hinter alle Fahrer aus unserer Fünfergruppe zurückgefallen war, hole ich diese jetzt nach und nach wieder ein. Irgendwann ist auch dieser Berg zu Ende. Für die (deutlich flacheren) letzten 200 m lege ich noch mal das große Blatt auf, und nach ziemlich genau 6 Stunden und 55 Minuten habe auch ich das Ziel erreicht.
Nach 8 Stunden und 21 Minuten erreicht auch Steffi das Ziel – als fünfte Frau an diesem Tag. Mit dem vierten Platz in ihrer Kategorie schrammt sie nur ganz knapp am Podium vorbei. Eine grandiose Leistung für ihre Marathonpremiere!
Flo ist mit seinem Schlußspurt bergauf rund anderthalb Minuten vor mir auf dem 29. Platz ins Ziel gekommen, während Jan mit einer Zeit von knapp über 7 Stunden auf dem 41. Platz ins Ziel kam.
Am Ende steht für mich ein 37. Platz zu Buche. Die Zeit ist rund eine Minute langsamer als vor zwei Jahren; mein Ziel mich zu verbessern habe ich also in doppelter Hinsicht verfehlt. Zufrieden bin ich damit nicht. Wahrscheinlich wäre es besser gelaufen, wenn ich nicht anfangs auf Biegen und Brechen versucht hätte mit den Besten mitzufahren, aber das war eben mein Ziel gewesen, und das Risiko wollte ich auch eingehen. Damit bleibt es dabei: Mit Trois Ballons hab ich eine Rechnung offen, und nächstes Jahr werde ich versuchen es besser zu machen.

P.S.: Bilder werde ich in den nächsten Tagen noch einfügen. Und sorry an all jene, die bereits auf einen Bericht gewartet haben sollten...

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